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DOI: 10.1055/a-2626-9618
Mein drittes Leben



Linda und Richard führen eine glückliche Beziehung, als der Unfalltod der 17-jährigen Tochter Sonja das Leben des Ehepaars erschüttert.
Jeder trauert für sich, trauert auf eine andere Art und Weise, und obwohl Linda ihren Mann liebt, entscheidet sie sich dafür, allein aufs Land in ein abgelegenes Dorf zu ziehen. Dort lebt sie zurückgezogen, ohne soziale Kontakte in einem alten Bauernhaus.
Der Alltag ist freudlos. Nur mit Schlaftabletten, von denen sie inzwischen abhängig ist, kommt sie halbwegs zur Ruhe. Die Autorin geht ganz nah an ihre Figur heran. Beklemmend aber ungemein plastisch wird diese Trauer, gegen die Linda nicht ankämpfen kann, beschrieben. Der Umgebung fällt es schwer, diesen kompletten Rückzug, der weit über den gemeinhin akzeptierten Zeitraum eines Trauerjahrs hinausreicht, zu verstehen. Freunde, Bekannte und Familie brechen den Kontakt ab, einzig ihr Mann Richard besucht sie noch alle zwei Wochen.
In Rückblenden erfährt der Leser Details aus ihrem früheren Leben, das vom Umgang mit Kunst geprägt war: Sie als erfolgreiche Kuratorin von Ausstellungen, er als selbstständiger Künstler. Der Alltag war nicht immer einfach, da Richard zwei Kinder aus erster Ehe mitgebracht hat.
Auch das Verhältnis zu ihrer Ursprungsfamilie ist konfliktbeladen. Linda war 13 Jahre alt, als ihre Mutter die Entscheidung getroffen hat, das perspektivenlose Dorfleben im Osten nach dem Mauerfall aufzugeben und einen wohlhabenden Mann aus dem Westen zu heiraten. Der Tochter wird jede Ausbildung ermöglicht, trotzdem ist sie entwurzelt und vermisst echte Beziehungen. Den eigenen Vater hat sie nie kennengelernt, der Stiefvater begeht Suizid, als sie erwachsen ist.
Der Roman setzt ein, als der Tod von Sonja bereits mehr als zwei Jahre zurückliegt. Lindas Krebserkrankung der Schilddrüse bietet für Richard die Chance, die Trauer hinter sich zu lassen. „Meinen Krebs zu bekämpfen wurde zu seiner Mission. Mein eigener Kampf dagegen war kein echter Kampf, sondern lediglich ein Reflex, der durch die Möglichkeit des Todes ausgelöst wurde. Der Mörder mit dem Namen Krebs legte seine Hände um den Hals des Opfers und drückte zu. Das Opfer wehrte sich unwillkürlich, beinahe wider den eigenen Willen, denn jede Kreatur wehrt sich gegen den Tod. Der Selbsterhaltungstrieb ist uns genetisch eingeschrieben. Richard nahm mir diesen Gedanken übel, denn in dieser Version der Geschichte kam er nicht vor.“
Im Krankenhaus lernt Linda dann auch jene alte Frau kennen, deren Hof sie in weiterer Folge pachtet.
Ein Hund, der regelmäßige Spaziergänge braucht, ein paar Hühner, der Garten und der harte Alltag des Landlebens halten Linda am Leben. In Natascha, die sich um ihre autistische Tochter kümmert, findet sie eine Freundin, die ebenso Außenseiterin ist wie sie. Als Richard eine neue Partnerin kennenlernt, wird der Kontakt zu seiner Frau weniger.
Auch wenn die Trauer in ihrer vielfältigen, nicht vorhersehbaren Ausprägung im Mittelpunkt des Romans steht, ist es keineswegs ein tristes oder nur schweres Buch. Manchmal geht es dem Leser wie dem Freundeskreis von Linda. Man möchte ihr zuzurufen „jetzt reiß dich doch einmal zusammen und kümmere dich auch um deinen Mann, der es wirklich gut mit dir meint.“ Doch Trauer folgt keinen Ratschlägen und ist individuell.
Schließlich zieht Linda zurück in die Stadt. Es kommt zu einzelnen Begegnungen, so auch mit ihrer Mutter, zu der ein sehr zwiespältiges Verhältnis besteht: „Manche Tode vernichten die Hinterbliebenen, andere erlösen sie. Das auszusprechen wage ich nicht, meine Mutter würde es ohnehin leugnen. Die Beteuerung ihrer tiefen Trauer über den Tod ihres Gatten gehört zum Schauspiel ihres Lebens dazu.“ Linda braucht Zeit, und mit der Zeit kehrt auch wieder eine gewisse Lebensenergie zurück.
Zwischen den Ehepartnern findet eine vorsichtige Annäherung statt, getragen von einem tiefen Vertrauen zueinander.
Das Besondere an diesem Buch ist, dass Daniela Krien zwar über Verlust, Trauer und Einsamkeit schreibt, es sich bei diesem Roman jedoch im eigentlichen Sinn um eine große Liebesgeschichte handelt. Man taucht ein in die Gefühlswelt von Linda und vielleicht versteht man am Ende besser, wie ambivalent Trauerreaktionen sein können, und wie sehr man sich davor hüten soll, eigene Wertvorstellungen auf sein Gegenüber zu projizieren.
Otto Gehmacher, Hohenems
Publication History
Article published online:
01 July 2025
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