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DOI: 10.1055/a-2567-7409
Adipositasmedizin 2025 – ein neues Fach nimmt Fahrt auf

In der menschlichen Evolution stellte die Adaptation an Hungerphasen über Jahrtausende einen Überlebensvorteil dar. Durch den Überfluss an kaloriendichter Nahrung führt dies heute zu gesundheitlichen Nachteilen (gestörte Mensch-Umwelt-Interaktion). Tatsächlich sind weltweit eine Milliarde Menschen von Übergewicht betroffen. Die Prävalenz hat sich in den meisten Ländern im Zeitraum von 1990 bis 2022 sogar mehr als verdoppelt. Diese Zahlen beschreiben die überwältigende Dimension der Adipositas Pandemie und sind ein dringender Appell für die Implementierung suffizienter Maßnahmen in Prävention und Therapie. Die WHO hat die Adipositas bereits im Jahre 1997 als chronische Erkrankung eingestuft. Die Europäische Kommission ist 2016 dieser Einschätzung gefolgt. Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) wurde die Adipositas im Jahre 2020 endlich auch in Deutschland als Krankheit anerkannt. Erfreulicherweise wurden danach sehr zeitnah die Voraussetzungen für ein Disease Management Programm (DMP-Adipositas) geschaffen, womit die Adipositas nicht nur formal als chronische Erkrankung anerkannt ist, sondern auch in der klinischen Versorgung als solche angegangen wird. Im Moment befindet sich die konkrete Ausgestaltung des DMP-Adipositas allerdings noch in einem Verhandlungsprozess mit den Kostenträgern. Passend zum neuen DMP wurde in 2024 auch die aktualisierte S3-Leitlinie publiziert. Im Vergleich zur alten Leitlinie wurde ein eigenes Kapitel zur Diagnostik der Adipositas erstellt. Der Bereich zur Ernährungstherapie hat wesentliche Veränderungen erfahren, ebenso wurde der Bereich zur adjuvanten Pharmakotherapie aufgrund der Entwicklungen um die neuen Inkretin-basierten Therapien aktualisiert. Hervorzuheben ist weiterhin, dass zwei neue Kapitel aufgenommen wurden, eines zur „E-Health“ und eines zum aus Patient*innen Sicht besonders wichtigen Thema „Diskriminierung und Stigmatisierung“. In Bezug auf diese sehr positiven Entwicklungen in der Versorgung ist die Entscheidung des G-BA in 2024, neue wirksame Medikamente zur Adipositastherapie weiterhin als „Lifestyle-Arzneimittel“ einzustufen, nicht nachvollziehbar. Zumal das betreffende Semaglutid in der SELECT Studie mit 17,604 Patienten nicht nur zu einer stabilen Gewichtsreduktion geführt hat, sondern auch den kombinierten kardiovaskulären Endpunkt signifikant senken konnte. Natürlich lassen sich leichte Fälle von chronischen Zivilisationskrankheiten alleine durch Verhaltensänderungen behandeln. Allerdings benötigen zum Beispiel Patientinnen und Patienten mit arterieller Hypertonie zusätzlich zur DASH-Diät häufig auch Medikamente, deren Kostenerstattung nicht in Frage gestellt wird. Warum sollten also schwer von Adipositas Betroffene zusätzlich zu ihrer Verhaltensmodifikation nicht ein für diese Erkrankung in Deutschland zugelassenes Medikament erhalten? Insbesondere vor dem Hintergrund des neuen DMP-Adipositas wirkt dies irritierend, da der Versorgungsausschluss das therapeutische Spektrum innerhalb des DMP deutlich einschränkt. Es sollte betont werden, dass das Problem nicht beim G-BA liegt. Der Gesetzgeber hat den allgemeinen Verordnungsausschluss in §34 Abs. 1 Satz 7 SGB V festgelegt, sodass der G-BA rein formal keinen Entscheidungsspielraum hatte. Deshalb ist nun der Gesetzgeber am Zuge, die Regulierung aus dem Jahr 2004 anzupassen, damit die Adipositas in Deutschland therapiert werden kann, als das was sie von der WHO, der EU und auch vom deutschen Gesetzgeber eingestuft ist – als chronische Erkrankung. Dass Gesetze in Deutschland prinzipiell sehr schnell geändert werden können, haben wir im März 2025 erlebt. Aber auch wenn sich die Gesetzeslage ändert, stellen sich gerade im Hinblick auf die neuen Inkretin-basierten Therapien die Fragen, „wer sollte therapiert werden?“ und „was sollte therapiert werden?“, da eine Versorgung aller Patient*innen mit Adipositas mit einem Pharmakon sicherlich weder medizinisch noch sozialpolitisch sinnvoll erscheint. Am 14.01.2025 wurde deshalb im Lancet eine neue Einteilung der Adipositas in „präklinisch“ und „klinisch“ vorgeschlagen. „Klinisch“ bedeutet dabei, dass neben der reinen Körpergewichtszunahme eine Organproblematik (z. B. Herz, Leber, Niere) vorliegt. Dies erscheint als sinnvolle Basis zur personalisierten Adipositastherapie innerhalb des DMP unter Anwendung der neuen Leitlinien und Beteiligung von pharmakologischen Ansätzen. Insbesondere, weil für die neuen Medikamente neben der starken Gewichtsreduktion auch positive Effekte auf Herz (SELECT-Studie), Leber (ESSENCE-Studie) und Niere (FLOW-Studie) beschrieben sind. Die S3-Leitlinie von 2024 empfiehlt bereits eine adjuvante Pharmakotherapie ab einem BMI ≥ 30 kg/m² (oder ≥ 27 kg/m², wenn gewichtsbedingte Begleiterkrankungen). Entscheidend ist jedoch die Einbindung in ein multimodales Konzept (z. B. innerhalb des DMP), da Inkretin-basierte Therapien Lebensstilinterventionen nicht ersetzen, sondern wirkungsvoll ergänzen. In der Summe sind alle die beschriebenen Entwicklungen sehr zu begrüßen und lassen uns positiv in die Zukunft schauen. Abschließend sollte aber ein wichtiger Punkt unbedingt angesprochen werden: Aufgrund der einleitend angesprochenen evolutionsbiologischen Erkenntnisse mit gestörter „Mensch-Umwelt Interaktion“ muss betont werden, dass die erfolgreiche Prävention und Therapie der Adipositas neben all den medizinischen Maßnahmen auch Änderungen im Lebensraum (z. B. „Quengelware“ an den Supermarktkassen, NutriScore, Zuckersteuer etc.) nötig machen, was als gesellschaftspolitische Aufgabe gesehen werden muss.
Publication History
Article published online:
13 June 2025
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