Notfallmedizin up2date 2015; 10(02): 173-184
DOI: 10.1055/s-0033-1358141
Spezielle Notfallmedizin
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Diagnostik und Therapie bei Patienten mit epileptischen Anfällen

Eine Fortbildung für Notärzte und Rettungsassistenten
Randi von Wrede
,
Christian E. Elger
Further Information

Korrespondenzadresse

Dr. med. Randi von Wrede
Klinik für Epileptologie, Universität Bonn
Sigmund-Freud-Straße 25
53105 Bonn

Publication History

Publication Date:
14 July 2015 (online)

 

Anfallsartige Störungen sind häufige Ursachen der Alarmierung des Notdienstes. Der vorliegende Artikel soll die wichtigsten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen erläutern und helfen, typische Fallstricke zu vermeiden.


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Abkürzungen

BfArM: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
BGB: Bürgerliches Gesetzbuch
CK: Kreatininkinase
EMA: European Medicines Agency
GTKA: generalisiert tonisch-klonischer Anfall
KA: Krampfanfall
REM: Rapid Eye Movement
StGB: Strafgesetzbuch
SUDEP: Sudden unexpected Death in Epilepsy
TIA: transitorisch ischämische Attacke
ZB: Zungenbiss

Einleitung

Der teils beängstigende oder auch stark befremdliche Charakter von epileptischen Anfällen kann bei Laien oder Erstbeobachtern zu großem Aktionismus führen, sodass der hinzukommende Notarzt also auch hier zunächst die Aufgabe der Deeskalation hat.

In der Mehrzahl der Fälle sind epileptische Anfälle bei Eintreffen des Rettungsteams bereits beendet, und der Patient befindet sich in der postiktalen Phase.


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Epileptischer Anfall versus Epilepsie

Bei einem epileptischen Anfall kommt es pathophysiologisch zu exzessiven hochsynchronen neuronalen Entladungen kortikaler Neurone. Die Ursachen sind mannigfaltig, wobei neben strukturellen Veränderungen auch metabolische und genetische Faktoren nicht vernachlässigt werden dürfen.

Ein einmaliger epileptischer Anfall wird, wenn auch uneinheitlich, im deutschen Sprachraum als Gelegenheitsanfall bezeichnet, wenn er durch eine besondere Situation (z. B. Alkohol, Gabe prokonvulsiver Medikamente etc.) ausgelöst ist, ohne dass sich Hinweise auf das Vorliegen einer Epilepsie ergeben. Komplizierend werden auch im Rahmen einer akuten Erkrankung, die direkt oder indirekt das Gehirn involviert, auftretende epileptische Anfälle als Gelegenheitsanfälle bezeichnet (s. [Übersicht]).

Übersicht

Häufige Ursachen von Gelegenheitsanfällen (modifiziert nach [ [1] ])

  • Alkohol, inkl. Entzug

  • Drogen, inkl. Entzug (u. a. Heroin, Kokain, Amphetamine)

  • Medikamente

    • Entzug: v. a.

      • Sedativa

      • Benzodiazepin

      • antikonvulsiv wirksame Substanzen

    • Einsatz: u. a.

      • Antidepressiva

      • Antibiotika

      • Kontrastmittel

      • Theophyllin

      • Antidiabetika

      • Kortikosteroide

  • Schlafmangel

  • Fieber

Ein erstmaliger epileptischer Anfall ist immer eine Indikation zur weiteren Abklärung und bis auf wenige Ausnahmefälle eine Aufnahmeindikation, um Dignität und Genese des Anfalls abzuklären und so notwendig schnell eine Behandlung einzuleiten.

Unter klinischen Bedingungen ist es möglich, eine tiefergehende Exploration durchzuführen. Nicht selten lassen sich auf dezidiertes Nachfragen anderweitige Anfallstypen erfragen (s. [Kasuistik 1]).

Kasuistik

Fallbeispiel 1

Eine 42-jährige Kommunikationsberaterin wird mit dem Rettungsdienst zur stationären Aufnahme gebracht. Fremdanamnestisch wird ein generalisiert tonisch-klonischer Anfall beschrieben. Die Patientin bezeichnet sich als ansonsten gesund, erst auf dezidiertes Nachfragen werden seit 15 Jahren bestehende Episoden mit einem aufsteigenden Übelkeitsgefühl und Déjà-vu-Erleben berichtet. Klinisch neurologisch zeigt sich ein rechts lateraler Zungenbiss, im 24-h-EEG werden zwei fokale Anfälle mit Bewusstseinseinschränkung und oralen Automatismen mit einer elektrophysiologischen Rhythmisierung links temporal, im Sinne zweier klinischer links temporaler komplex-fokaler Anfälle, aufgezeichnet. MR-tomografisch zeigt sich ein unauffälliger Befund. In der Kontrollbildgebung nach 2 Jahren zeigen sich Hinweise auf eine Hippocampussklerose links als mögliche Ursache der Epilepsie.

Durch die differenzierte Anamnese konnte ein hohes Rezidivrisiko erhoben und eine antikonvulsive Medikation zur Senkung dieses Risikos eingeleitet werden.

Abzugrenzen von dem isolierten Anfallsereignissen ist eine Epilepsie. Diese ist klinisch definiert durch rezidivierende unprovozierte Anfälle oder bei einem einmaligen Anfall mit zusätzlichen Hinweisen auf eine erhöhte Rezidivgefahr (z. B. potenziell epileptogene intrazerebrale Läsion oder elektrophysiologisch erhöhte Anfallsbereitschaft) [2].

Die Prävalenz von Epilepsien ist mit 0,5–0,8 % anzunehmen [3], mit einem Maximum der Inzidenz im Kindes- und Jugendalter sowie jenseits des 60. Lebensjahres. Während für einen Großteil der Patienten eine medikamentöse Anfallskontrolle erzielt werden kann, erweist sich für ca. 30 % der Patienten die Epilepsie als schwer behandelbar; für dieses Kollektiv stehen alternative Verfahren wie Epilepsiechirurgie und Hirnstimulationsverfahren zur Verfügung [4].

Bei erhöhter Epileptogenität kann bereits der erste Anfall der Beginn einer Epilepsie sein und zu einer medikamentösen Behandlungsempfehlung führen [2].


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Klassifikationen und Semiologie

Die Nomenklatur der Anfalls- und Epilepsieklassifikation befindet sich im Umbruch In den aktuellen Leitlinien werden die neue (2010) und die alte Klassifikation (1989) gegenübergestellt, der Gebrauch ist daher aktuell bedauerlicherweise noch uneinheitlich und führt ggf. zu Missverständnissen; eine konsequente Umsetzung erfolgte in den aktuellen Leitlinien aus verschiedenen Gründen nicht (Tab. [1] u. Tab. [2]).

Tabelle 1 Klassifikation der Epilepsien 1989 versus 2010 [2].

alte Klassifikation (1989)

neue Klassifikation (2010)

symptomatisch

strukturell/metabolisch

kryptogen

unbekannte Ursache

idiopathisch

genetisch

Tabelle 2 Klassifikation der epileptischen Anfälle 1989 versus 2010 (in Auszügen [2]).

alte Klassifikation (1989)

neue Klassifikation (2010)

generalisierte Anfälle

  • tonisch-klonisch

  • tonisch

  • klonisch

  • myoklonisch

  • atonisch

  • Absencen

generalisierte Anfälle

  • tonisch-klonisch

  • tonisch

  • klonisch

  • myoklonisch (Untergruppen)

  • Absencen (Untergruppen)

lokalisationsbezogene Anfälle

  • einfach fokal/partiell (mit Untergruppen)

  • komplex fokal/partiell

  • sekundär generalisiert

fokale Anfälle

fokale Anfälle werden mit den Beeinträchtigungen beschrieben:

  • mit Bewusstseins-/Aufmerksamkeitseinschränkung: dyskognitiv

  • mit Entwicklung zu einem bilateral konvulsiven Anfall

nicht klassifizierbar

unbekannt

Semiologie

Im präklinischen Setting wird der Notarzt im Wesentlichen beim Auftreten unklarer Bewusstlosigkeiten, abgelaufenen generalisiert tonisch-klonischen Anfällen, postiktalen Auffälligkeiten und Serien/Status kontaktiert werden. Kenntnisse anderer Semiologien sind jedoch hilfreich, um eine zumindest orientierende Einschätzung des Ereignisses und damit der Akuität und Behandlungsbedürftigkeit abgeben zu können.

Die periiktal und iktal auftretenden Phänomene (Semiologie) erlauben bei einem Großteil der fokalen epileptischen Anfälle eine lokalisatorische und/oder lateralisierende Zuordnung. Hierbei gibt es typische positive (Erregungs-) und negative (Hemmungs-) Phänomene:

  • Präiktal handelt es sich meist um Positiv-Phänomene (z. B. Geruchssensation).

  • Iktal liegen Positiv-Phänomene (z. B. komplexe Handlungsautomatismen) und Negativ-Phänomene (z. B. Bewusstseinseinschränkung) vor.

  • Postiktal imponieren häufiger Negativ-Phänomene (Aphasie, Todd-Parese) als Positiv-Phänomene (z. B. Fluchttendenzen, Aggressivität).

Eine Todd-Parese kann, insbesondere im höheren Lebensalter, mehrere Stunden anhalten und somit eine transitorische ischämische Attacke (TIA) imitieren. Postiktale aggressive Verhaltensweisen werden häufig als primär psychiatrische Phänomene oder Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen eines exzessiven Alkoholkonsums missdeutet (Tab. [3]).

Tabelle 3 Lokalisierende und lateralisierende Zeichen der Anfallssemiologie (exemplarisch).

Semiologie

Lateralisation/Lokalisation

fokaler motorischer Anfall

kontralateral

forcierte Kopfwendung

ipsilateral

unilaterale dystone Haltung

kontralateral

Automatismen bei erhaltener/diskret geminderter Bewusstseinslage

nicht dominante Hemisphäre

postiktal:

  • Todd-Parese

  • Aphasie

kontralateral

sprachdominante Hemisphäre

orale Automatismen, Nesteln

temporomesial

Spracharrest

dominant temporolateral

vegetative Symptome

Insel, Amygdala

hypermotorische Elemente, Paddeling

frontal

Lachen (gelastische Anfälle)

Hypothalamus


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Epileptischer Anfall und Differenzialdiagnose

Die Differenzialdiagnose zum epileptischen Anfall ist mannigfaltig; die wichtigsten sind psychogene Anfälle, Synkopen und bei Anfällen aus dem Schlaf REM-Schlaf-Verhaltensstörungen (s. [Übersicht]).

Übersicht

Differenzialdiagnosen

  • Synkope, insbesondere konvulsive Synkope

  • TIA, transiente globale Amnesie

  • psychogene Anfälle

  • Panikattacken

  • Tics

  • Migräne

  • Narkolepsie

  • Somnambulismus, REM-Schlafstörung

  • Vertigo anderer Ursache

  • paroxysmale Bewegungsstörungen

Informationen zum Verlauf des Anfalls sind für die Einordnung von überragender Bedeutung. Jede Information, die über das Kürzel „Krampfanfall“ hinausgeht, hilft dem Folgebehandler und damit dem Patienten hinsichtlich der Diagnose, der Rezidivrisikostratifizierung und damit der Therapieentscheidung (s. u.: [Kasuistik 2]).


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Morbidität und Mortalität

Bei epileptischen Anfällen steigt das Morbiditätsrisiko für die betroffenen Patienten. Dies kann durch die Grunderkrankungen (z. B. Schlaganfall), die Medikamente (z. B. Schwindel) oder durch die Anfälle (Frakturen, Crush-Niere bei Hyper-CKämie etc.; s. u.) bedingt sein.

Statistisch häufigste Unfallfolgen sind Gehirnerschütterungen (Risiko 2,6-fach erhöht), Hautabschürfungen (Risiko 2,1-fach erhöht), Wunden (Risiko 1,9-fach erhöht) und Hirnkontusionen (Risiko 1,5-fach erhöht) milden Ausmaßes, welche per se selten eine Hospitalisation erzwingen [5].

Frakturen/Luxationen. Das epilepsiebedingte Frakturrisiko ist im Verhältnis zur Normalbevölkerung 2-fach erhöht: zum einen den Anfällen, zum anderen einer ggf. medikamentös bedingten Knochendichteabnahme geschuldet. Die häufigsten Frakturen betreffen die Hüfte und den Oberschenkelknochen, jedoch ist auch die Häufigkeit von Frakturen der übrigen Extremitätenknochen nahezu 2-fach erhöht [6].

Aufgrund der ggf. massiven Konsequenzen darf auch eine Wirbelkörperfraktur nicht übersehen werden. Hierbei handelt es sich meist um Kompressionsfrakturen der mittleren Thorakalregion. Klinisch neurologisch zeigen sich meist keine Ausfälle. Bei deutlichen Schmerzen, insbesondere Klopfschmerz in diesem Bereich, sollte jedoch der Betroffene bis zum Ausschluss einer stabilen Wirbelkörperhinterkante wie ein Frakturpatient behandelt werden [7].

Beim Sturz auf die Schulter kann diese luxieren.

Verbrennung/Verbrühung. Verbrennungen durch Anfälle betreffen vor allem Verbrühungen oder Kontakte mit Heizungen, Bügeleisen oder Föhnen [8]. Im Rahmen von komplex-fokalen Anfällen kann es u. a. zu inadäquaten Handlungen oder Handlungsautomatismen kommen, die dann die Verbrennungen bedingen (Zigaretten, Kochtopf).

Weichteilverletzungen. Es handelt sich hier im Wesentlichen um Prellungen, Wunden und Abschürfungen [8].

Zahnverletzungen. Diese Verletzungen treten häufig bei Anfällen mit Stürzen auf; eine retrospektive Studie beziffert einen Anteil von 9,6 % [9].

Ertrinken. Das mit der höchsten Mortalität einhergehende Unfallrisiko bei einem epileptischen Anfall ist das Ertrinken (Mortalitätsrate 4,4) [10]. Durch fehlende Schutzreflexe kann das Wasser in die Lunge laufen, und durch fehlende Abwehrbewegungen wird der Ertrinkende ggf. nicht bemerkt. Der häufigste Ort für das Ertrinken im Anfall ist die Badewanne (Übersicht in [8]).

Die Mortalität von Epilepsiepatienten ist gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht (Standardmortalitätsrate 2–2,6). Gründe hierfür sind zum einen der Epilepsie zugrunde liegende Erkrankungen (z. B. Neoplasien, Schlaganfall, ZNS-Infektionen), zum anderen Suizide und epilepsieassoziierte Komplikationen wie Unfälle, iatrogener Tod, Status epilepticus und SUDEP.

SUDEP (sudden unexpected Death in Epilepsy). Beim SUDEP handelt es sich um den plötzlichen unerwarteten, beobachteten oder unbeobachteten Tod eines Epilepsiepatienten mit oder ohne Evidenz eines stattgehabten epileptischen Anfalls, der nicht durch Trauma, Ertrinken, Status, Intoxikation oder andere innere Ursachen verursacht wurde. Als Risikofaktoren gelten eine symptomatische Ursache, früherer Epilepsiebeginn und männliches Geschlecht, das Auftreten von generalisiert tonisch-klonischen Anfällen (GTKA), nächtliche Anfälle.

Die Inzidenz ist mit 0,1–1 pro 1000 Patientenjahre anzunehmen, bei therapieresistenten Patientenpopulationen bis zu 9 pro 1000 Patientenjahre.

Aktuelle Studien legen eine GTKA-assoziierte Suppression kardiorespiratorischer Funktionen in der frühen postiktualen Phase (innerhalb der ersten 3 Minuten) als Ursache des SUDEP nahe. Protektiv scheint eine nächtliche Überwachung und dann die früh einsetzende kardiopulmonale Reanimation zu sein; einfache Maßnahmen sind Ansprache und Körperkontakt, um die Arousal-Reaktion und die Spontanatmung zu fördern. Die Überwachung der Vitalparameter gewinnt durch diese Ergebnisse an großer Bedeutung (Übersicht in [11]).


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Diagnostisches Vorgehen

Anamnese

Der wichtigste Bestandteil der Diagnosestellung eines Anfallsleidens ist die sorgfältige Erhebung der Anamnese.

Die Eigenanamnese kann häufig einen relevanten Beitrag leisten. So sollte nach einem einleitenden Vorgefühl gefragt werden. Patienten mit fokalen Anfällen ohne Bewusstseinsstörung können den gesamten Anfallsablauf schildern. Die überwiegende Mehrzahl epileptischer Anfälle geht jedoch zumindest zeitweise mit einer Bewusstseinsstörung sowie häufig mit einer zeitlich darüber hinausgehenden Amnesie einher, sodass meist noch wichtiger die Erhebung einer Fremdanamnese ist. Eine genaue Anfallsschilderung (s. [Checkliste]) ist wichtig zur Beantwortung der Frage, ob es sich um epileptische Anfälle handelt und ob es eine relevante Vorerkrankung oder eine präexistente Epilepsie gibt.

Checkliste

Fragen für die Eigen- und Fremdanamnese

  • War der Patient während des Anfalls (eingeschränkt) kontaktierbar?

  • Kam es zu motorischen Phänomenen (z. B. orale/manuelle Automatismen, Tonisierung, Kloni, Kopf-, Blick-, Körperdrehung, komplexe Handlungsabläufe)? Auf welcher Seite traten diese auf?

  • Waren die Augen geschlossen, geöffnet, geradeaus starrend oder nach oben verdreht?

  • Dauer des Anfalls und Dauer der Erholungsphase?

  • Gab es neurologische Auffälligkeiten (Lähmung, Sprachstörung, Gefühlsstörung) nach dem Anfall?

  • Gab es psychiatrische (z. B. Weglauftendenz) Auffälligkeiten nach dem Anfall?

  • Sind indirekte Zeichen (lateraler Zungenbiss, Einnässen/Einkoten, petechiale Einblutungen, Muskelkater) vorhanden?

  • Gab es Provokationsfaktoren (Fieber, neue Medikamente etc.)?

  • Gibt es eine vorbestehende Epilepsie? Welche Medikamente werden eingenommen?

Eine Fremdanamnese ist auch deshalb wesentlicher Bestandteil der epileptologischen Diagnostik, da ein Teil der Anfälle nicht erinnert wird und somit die ärztliche Behandlung ggf. auf Fehlannahmen basiert. So konnten Hoppe u. Mitarbeiter zeigen, dass je nach Art der Anfälle sowie Zeitpunkt von deren Auftreten (im wachen Zustand oder im Schlaf) bis zu 85,5 % der Anfälle vom Patienten selbst nicht wahrgenommen werden [12]. Dies ist besonders bei alleinstehenden Patienten relevant, um besser einschätzen zu können, ob die vorhandene Epilepsie tatsächlich suffizient therapiert ist oder nicht. In einer aktuellen Studie mittels intrakranieller Ableitung zur Anfallsvorhersage, welche mit klinischen Daten abgeglichen wurde, zeigte sich als Nebenerkenntnis der Arbeit, dass es keine Korrelation zwischen den selbstdokumentierten und den im EEG aufgezeichneten Anfällen gab [13]. Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass die Selbstdokumentation, welche die übliche Bestimmung der Anfallsfrequenz ist, hinsichtlich ihrer Aussagefähigkeit kritisch hinterfragt werden muss.

Je nach Anfallsart können bis zu 85,5 % aller Anfälle vom Patienten unbemerkt ablaufen (Tab. [4])!

Praxistipp

Fremdanamnese

Um dem Nachbehandler eine Fremdanamnese zu ermöglichen, ist die Dokumentation bzw. Weitergabe einer Fremdanamnese oder Dokumentation der Kontaktdaten des Beobachters eine extrem wichtige Hilfe.

Tabelle 4 Nicht bemerkte Anfälle nach Anfallstyp und Tageszeit [3].

Anfallstyp/Tageszeit

nicht wahrgenommen

582 Anfälle/91 Patienten

55,5 %

komplex-fokale Anfälle

73,2 %

einfach-fokale Anfälle

26,2 %

generalisiert tonisch-klonische Anfälle

41,7 %

Anfälle im Schlaf

85,5 %

Anfälle im wachen Zustand

32,0 %


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Präklinische Diagnostik

Orientierende neurologische Untersuchungen können Hinweise auf Ursachen des epileptischen Anfalls ergeben. Neben dem Messen der Vitalparameter ist die Bestimmung des Glukosespiegels zu fordern, da sowohl Hyper- als auch Hypoglykämien epileptische Anfälle im Rahmen von Gelegenheitsanfällen wie auch als Provokationsfaktor bei präexistenter Epilepsie auslösen können.

Reden, untersuchen, behandeln, dokumentieren.


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Therapeutisches Vorgehen

Risikostratifizierung und Gabe von Benzodiazepinen

Die Risikostratifizierung im präklinischen Bereich bezieht sich auf zwei Fragestellungen:

  • Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient einen weiteren Anfall erleidet?

  • Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient eine Komplikation erlitten hat?

Epileptische Anfälle sind üblicherweise selbstlimitierend. Die Gabe von Benzodiazepinen ist daher nicht zwingend, sondern lediglich dann durchzuführen, wenn ein erhöhtes Anfallsrezidivrisiko besteht (s. [Übersicht]). Die Gabe von Benzodiazepinen verlängert die Phase der Überwachungspflichtigkeit und bedingt, insbesondere bei Patienten, die mit ihrer Erkrankung prinzipiell gut zurecht kommen, unnötige Krankenhausaufenthalte.

Übersicht

Beispiele für ein erhöhtes Anfallsrezidivrisiko

  • vorbekannte Status- oder Serienneigung

  • mehr als 2 generalisiert tonisch-klonische Anfälle innerhalb 24 Stunden

  • schwere akute Erkrankung

  • schwere Anfallskomplikation

Üblicherweise werden Benzodiazepine in der präklinischen Behandlung von epileptischen Anfällen eingesetzt; der Tab. [5] ist jedoch zu entnehmen, dass interessanterweise die gängigen Benzodiazepine für diese Behandlungssituation keine Zulassung haben und somit im Rahmen eines individuellen Heilversuchs eingesetzt werden. Dies lässt die „therapeutische Zwickmühle“ – Behandlung häufig nur in relativer Indikation – deutlich werden.

Tabelle 5 Gängige Benzodiazepine der Akutversorgung epileptischer Anfälle.

Substanz

Name

Darreichungsform

Zulassung in der Epileptologie

Clonazepam

Rivotril®

p. o., i. v.

Kinder: klinische Formen der Epilepsie

Erwachsene: Status

Diazepam

Faustan®

Diazepam-Generika

p. o., i. v. rektal

Status

Behandlung starker epileptischer Anfälle

Diazepam ratiopharm® Injektionslösung

i. v.

Valium®

p. o.

Midazolam

Buccolam®

Lösung zu Anwendung in der Mundhöhle

länger anhaltende Krampfanfälle bei Kindern > 3 Monate bis < 18 Jahre

Dormicum®

Midazolam

i. v.

Sedierung (Prämedikation)

Lorazepam

Tavor®

Tavor expidet®

i. v., lyophilisierte Tabletten

Status

  • Ganz pragmatisch hat sich bei Indikation zur Behandlung mit Benzodiazepinen die Gabe von oralem lyophylisiertem Lorazepam gut gewährt.

  • Wird die Rezidivneigung als deutlich erhöht eingeschätzt, ist die Gabe von Clonazepam am unkompliziertesten durchzuführen.

  • Im klinischen Alltag wird zunehmend mehr nasales Midazolam eingesetzt, wobei es sich im Erwachsenenbereich um einen Heilversuch handelt (s. o.). Aktuelle laufende Studien zu nasalem Midazolam werden hoffentlich in Zukunft die Frage zur Wirksamkeit, Vermeidung von Rezidiven und Status beantworten.

Zu berücksichtigen bliebt weiterhin, dass ein Teil der Patienten postiktal deutlich agitiert, ggf. auch eigen- oder fremdgefährdend ist, sodass sich hieraus die Indikation zur Benzodiazepingabe ergibt.

In den meisten Fällen ist die Gabe von Lorazepam aufgrund der kurzen Halbwertszeit zu empfehlen.


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Antikonvulsive Therapie

So die Diagnose eines epileptischen Anfalls oder einer Epilepsie gestellt wurde und die Rezidivrisikostratifizierung ein erhöhtes Rückfallrisiko ergab, besteht die Indikation zur antikonvulsiven Medikation.

Fokale oder fokal eingeleitete generalisierte Anfälle

Entsprechend den aktuellen Leitlinien [2] wird bei Einleitung einer antikonvulsiven Therapie bei fokalen oder fokal eingeleiteten generalisierten Anfällen zunächst eine Therapie mit Lamotrigin oder Levetiracetam empfohlen. Diese sind in ihrer Wirksamkeit mit zahlreichen anderen Antikonvulsiva vergleichbar, die zur Monotherapiebehandlung fokaler Epilepsien zugelassen sind, sie sind aber hinsichtlich ihrer Verträglichkeit und potenziellen Langzeitfolgen als sehr günstig anzusehen. Beide besitzen keinen (Levetiracetam) bzw. nur einen sehr geringen (Lamotrigin) enzyminduzierenden Effekt. Es kann unter individueller Abwägung von Komorbiditäten, Komedikation und Gesamtkonstellation auch ein anderes Antikonvulsivum ausgewählt werden, jedoch sollten die folgenden Punkte berücksichtigt werden:

  • In den letzten Dekaden stehen zunehmend mehr Antikonvulsiva zur Verfügung (Tab. [6]). In der Abwägung zum Einsatz der verschiedenen Antikonvulsiva spielen verschiedene Beweggründe eine Rolle, wobei die individuellen Erfahrungen der Behandler meist im Vordergrund stehen. Die sogenannten klassischen Antikonvulsiva zeichnen sich durch jahrzehntelange Erfahrung, etablierte Behandlungsschemata und niedrige Kosten aus.

  • Viele von ihnen sind jedoch mit relevanten Nebenwirkungen behaftet oder zeigen Einflüsse auf den Leberstoffwechsel, welche Wechselwirkungen wahrscheinlich machen und/oder Komorbiditäten negativ beeinflussen.

  • Der Vorteil der modernen Antikonvulsiva ist in den definierten Wirkungs- und Nebenwirkungsdaten zu sehen. Viele von ihnen zeigen keinen oder nur einen geringen Einfluss auf den Leberstoffwechsel.

  • Head-to-Head-Studien hinsichtlich der Anfallskontrolle liegen nur in unzureichendem Maß vor.

Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass weniger die Anfallskontrolle als mehr die Verträglichkeit und deren Einfluss auf die Lebensqualität und damit die längerfristige Adhärenz der Vorteil moderner Antikonvulsiva sind.

Tabelle 6 Aktuell eingesetzte Antikonvulsiva.

Substanz

Name

Darreichungsform

Kursivdruck: Weniger häufig oder nur in speziellen/schwierigen Behandlungssituationen eingesetzt.

* In Deutschland aktuell über ein spezialisiertes Programm erhältlich.

** In Deutschland aktuell nicht erhältlich. Bezug aus dem Ausland ist möglich.

Acetolamid

Diamox®

p. o.

Bromid

DIBRO-BE®

p. o.

Carbamazepin

Finlepsin®

Tegretal®

Timonil®

verschiedene Generika

p. o.

Eslicarbazepinacetat

Zebinix®

p. o.

Ethosuximid

Petnidan®

Suxilep®

p. o.

Felbamat

Taloxa®

p. o.

Clobazam

Frisium®

p. o.

Clonazepam

Rivotril®

p. o., i. v.

Gabapentin

Neurontin®

Gabagamma®

Gabalich®

Gabax®

weitere Generika

p. o.

Lacosamid

Vimpat®

p. o., i. v.

Lamotrigin

Lamictal®

verschiedene Generika

p. o.

Levetiracetam

Keppra®

verschiedene Generika

p. o., i. v.

Mesuximid

Petinuitin®

p. o.

Oxcarbazepin

Apydan ext.®

Timox®

Trileptal®

verschiedene Generika

p. o.

Perampanel*

Fycompa®

p. o.

Phenobarbital

Luminal®

Luminaletten®

Phenbarbital

p. o., i. v.

Phenytoin

Epanuitin®

Phenhydan®

Zentropil®

p. o., i. v.

Pregabalin

Lyrica®

p. o.

Primidon

Mylepsinum®

Primidon

p. o.

Retigabin**

Trobalt®

p. o.

Rufinamid

Inovelon®

p. o.

Siripentol

Diacomit®

p. o.

Sultiam

Ospolot®

p. o.

Tiagbin

Gabitril®

p. o.

Topiramat

Topamax®

Topiragamma®

weitere Generika

p. o.

Valproat

Convulex®

Convulsofin®, verschiedene Generika

Ergenyl®

Leptlian®

Orfiril®

p. o., i. v.

Vigabatrin

Sabril®

p. o.


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Generalisierte Epilepsien

Für generalisierte Epilepsien sind in wegweisenden Studien die Wirksamkeitsüberlegenheit von Valproinsäure gegenüber Lamotrigin sowie die Nebenwirkungsüberlegenheit gegenüber Topiramat belegt. Nach den aktuellen Leitlinien wird somit Valproat bei fehlenden Kontraindikationen als Ersttherapie empfohlen. Dem stehen jedoch die aktuellen Empfehlungen der EMA und des BfArM entgegen, nach denen Valproinsäure bei Frauen im gebärfähigen Alter wegen des erhöhten Risikos für Anomalien bei Neugeborenen nur verschrieben werden sollte, wenn andere Substanzen nicht wirksam waren oder nicht vertragen wurden [14]. Der Einsatz von Valproinsäure in dieser Patientengruppe ist aktueller Punkt der wissenschaftlichen Diskussion, die Task Force der Internationalen Liga gegen Epilepsie relativiert die Empfehlungen der EMA [15].


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Compliance/Adhärenz

Zu Beginn der Erkrankung steht für den Patienten häufig die Anfallsfreiheit im Vordergrund, ganz besonders natürlich, weil Prognose und Verlauf noch unklar sind. Im Laufe der Erkrankung, insbesondere bei unkompliziertem Verlauf, rückt das Erlebnis der Anfälle in den Hintergrund, was zu einer Verschlechterung der Therapietreue und zu konsekutiven Anfallsrezidiven führen kann.

Eine Steigerung der Compliance/Adhärenz, insbesondere bei ungünstigen Verläufen und langwieriger Einstellung, kann durch eine frühzeitige ausführliche Aufklärung des Patienten über die Erkrankung, deren mögliche Auswirkungen und deren Behandlung erreicht werden. Bedauerlicherweise kommt es immer wieder zum eigenständigen Absetzen der Antikonvulsiva aus Unverständnis über den prophylaktischen Charakter der Behandlung oder den Wirkverlauf in Eindosierungsphasen. Die hierdurch bedingte Morbidität und Mortalität (z. B. SUDEP) ist nicht zu unterschätzen. Zusätzlich zur regelmäßigen Tabletteneinnahme gilt es, über vermeidbare Provokationsfaktoren wie Schlafentzug, Alkoholexzesse aufzuklären, um einen möglichst günstigen Verlauf der Epilepsie zu erreichen.

Ein Patient, der die Ursache seiner Erkrankung und die Notwendigkeit der Behandlung begreift, wird viel eher die Behandlung konsequent durchführen als jemand, dem sich die Grundlagen der Erkrankung nicht erschließen. Auch bei der Auswahl des Antikonvulsivums sollte man unter Abwägung der häufigsten Nebenwirkungen und der Wirkweise mit dem Patienten gemeinsam zu einer Entscheidung kommen.

Wie immer ist eine gute ausführliche Aufklärung Voraussetzung für eine gute Adhärenz.

Ein großer Anteil der Epilepsiepatienten wird im Verlauf unter medikamentöser Therapie anfallsfrei. Bei etwa einem Drittel der Patienten gelingt dies jedoch auch durch verschiedenste Medikamente in Mono- und Kombinationstherapie nicht. Hier ist es wichtig, die Lebensqualität der Patienten nicht aus dem Auge zu verlieren. Wenn das Ziel der Anfallsfreiheit nicht ohne größere Probleme realisierbar ist, sollte besonders darauf geachtet werden, die Nebenwirkungen der Therapie möglichst gering zu halten. Auch bei Patienten mit schwer behandelbaren Epilepsien ist jedoch jede Änderung der Medikation eine neue Chance auf Verbesserung der Anfallssituation oder sogar auf das Erreichen von Anfallsfreiheit (ca. 15–16 %), sodass man als Behandler durchaus über mehr als 2–3 Standardbehandlungsschemata verfügen sollte [16], [17].


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Dauer der antikonvulsiven Behandlung

Eine besondere Herausforderung in der medikamentösen Therapie von Patienten mit Epilepsie ist die Dauer der Behandlung. Gerade nach mehrjähriger Anfallsfreiheit wünschen viele Patienten die Beendigung der antiepileptischen Medikation. Aber auch manche Ärzte empfehlen ihren Patienten nach langandauernder Anfallsfreiheit, teilweise vielleicht etwas vorschnell, die Beendigung der antikonvulsiven Therapie. Da die antikonvulsive Therapie jedoch lediglich eine prophylaktische symptomatische und keine heilende Therapie ist, ist es in vielen Fällen sinnvoll, die Medikation, insbesondere bei guter Verträglichkeit, dauerhaft (oft lebenslang) fortzuführen. Eine Beendigung der Therapie sollte nur dann erwogen werden, wenn Bildgebung und EEG dafür sprechen, dass der Zustand einer deutlich erhöhten Anfallsbereitschaft nicht mehr fortbesteht.

Eine Metaanalyse der Daten von 13 Studien mit insgesamt 2300 Patienten zeigte, dass in 12–66 % nach Absetzen der Medikation epileptische Anfälle wieder auftraten, der Mittelwert dieser Studien lag bei 34 %. Nach erneuter Eindosierung einer antikonvulsiven Medikation waren etwa 50 % nach einem Jahr erneut anfallsfrei. Bei etwa 19 % ließ sich die frühere Anfallskontrolle nicht wieder erzielen, etwa 23 % litten nach 5 Jahren an einer pharmakoresistenten Epilepsie [18]. Die Daten sind jedoch nur als Augenmaß anzunehmen, die Rezidivwahrscheinlichkeit ist individuell zu kalkulieren (s. o.: „Risikostratifizierung“).

Für die Zeit des Absetzens der Antikonvulsiva und 3 Monate im Anschluss besteht Kraftfahrzeuguntauglichkeit!

Das Wiederauftreten epileptischer Anfälle nach langjähriger Anfallsfreiheit hat für den Patienten erhebliche Folgen nicht nur medizinischer Natur: Zunächst erhöht sich durch eine aktive Epilepsie das Risiko für Morbidität und Mortalität. Zusätzlich ergeben sich vielfältige sozialmedizinische Probleme. Es kommt zu einer zumindest zeitweiligen Fahruntauglichkeit und hierdurch Einschränkung der Mobilität, auch Arbeitsplatzprobleme können erwachsen. Zudem führt das Wiederauftreten epileptischer Anfälle im sozialen Umfeld sowie der eigenen psychischen Verfassung oft zu Schwierigkeiten mit depressiver Entwicklung, Rückzug, Scham und Angst vor erneuten Anfällen, insbesondere in der Öffentlichkeit.

Cave. Ein zu forsches Absetzen der antikonvulsiven Medikation bei Anfallsfreiheit kann multiple gesundheitliche, psychische und soziale Folgen haben!

Wenn man sich aber gemeinsam mit dem Patienten zur Beendigung der Medikation entscheidet, sollte dies auf jeden Fall in Form einer langsamen, schrittweisen Dosisreduktion, am besten über Monate, erfolgen und niemals in Form eines abrupten Absetzens.

Langsame Dosisreduktion über Monate, wenn die Entscheidung zur Beendigung der antikonvulsiven Medikation gefallen ist!


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Sozialmedizinische Überlegungen

Eine Epilepsie als anfallsartige Störung bedingt für viele Patienten deutliche sozialmedizinische Konsequenzen.

Kraftfahrzeugtauglichkeit

Die Kraftfahrzeuguntauglichkeit bei aktiven Epilepsien ist hinreichend bekannt [19]. Der Behandler unterliegt einer Aufklärungspflicht hinsichtlich der Kraftfahrzeuguntauglichkeit und kann bei Unterlassung haftbar (BGB) gemacht und strafverfolgt (StGB) werden.

Eine allgemeine Meldepflicht besteht in Deutschland nicht. Schwierige Situationen entstehen, wenn der Patient trotz fehlender Fahrtauglichkeit weiter ein Kraftfahrzeug führt, da hier zwei Rechtsgüter (Schweigepflicht ↔ Anzeigepflicht bei geplanter Straftat [StGB]) kollidieren. Das Thema Kraftfahrzeugtauglichkeit ist jedem Kollegen unangenehm, da die fehlende Kraftfahrzeugtauglichkeit nicht nur eine Einschränkung der Mobilität im rein Praktischen ist, sondern auch vom Patienten als Kränkung und Autonomieverlust erlebt wird, wofür häufig der behandelnde Arzt als Projektionsfläche dient.

Im Wesentlichen sind 2 Kraftfahrzeuggruppen zu unterscheiden:

  • Gruppe 1 entspricht dem üblichen Pkw, Motorräder, Traktoren.

  • Zur Gruppe 2 gehören Lkws und Personenbeförderung.

Für die beiden Gruppen gelten verschiedene Richtlinien (Tab. [7] u. Tab. [8]).

Tabelle 7 Kraftfahrzeugtauglichkeit Gruppe 1 (Pkws, Motorräder, Traktoren) [19].

erneute Kraftfahrzeugtauglichkeit nach anfallsfreiem Beobachtungszeitraum von

erstmaliger provozierter Anfall mit vermeidbarem Auslöser

3 Monaten

erstmaliger unprovozierter Anfall ohne Hinweise auf beginnende Epilepsie

6 Monaten

Epilepsie

12 Monaten

keine Nebenwirkungen, welche die Kfz-Tauglichkeit einschränken

Ausnahmen:

  • 3 Jahre Anfälle aus dem Schlaf

  • 1 Jahr Anfälle ohne Bewussteinseinschränkung, fahrrelevante motorische, sensible, kognitive Einschränkungen

Anfallsrezidiv bei bestehender Kfz-Eignung nach langjähriger Eignung

6 Monaten (3 Monaten bei vermeidbaren Provokationsfaktoren)

Beendigung der antikonvulsiven Medikation

Zeit der Abdosierung und anschließend 3 Monate

Tabelle 8 Kraftfahrzeugtauglichkeit Gruppe 2 (Lkws und Personenbeförderung) [19].

erneute Kraftfahrzeugtauglichkeit nach anfallsfreien Beobachtungszeitraum von

erstmaliger provozierter Anfall mit vermeidbarem Auslöser

6 Monaten

erstmaliger unprovozierter Anfall ohne Hinweise auf beginnende Epilepsie

24 Monaten

Epilepsie

in der Regel keine Kfz-Tauglichkeit

Ausnahme: 5 Jahre Anfallsfreiheit ohne antikonvulsive Medikation

Anfallsrezidiv bei bestehender Kfz-Eignung nach langjähriger Eignung

keine Kfz-Tauglichkeit

Beendigung der antikonvulsiven Medikation

keine Kfz-Tauglichkeit (s. o.)

Die Begutachtungsleitlinien sollten im Wesentlichen beherzigt werden. Ausnahmen bedürfen einer guten Begründung (schriftlich dokumentieren).

Die Einnahme einer antikonvulsiven Medikation schließt das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 aus.

Die Indikation zur antikonvulsiven Medikation liegt in manchen Fällen im Ermessen des Behandlers. Auch hier gilt es natürlich, das Für und Wider mit dem Betroffenen abzuwägen und die Implikationen auf die Lebensqualität inklusive Kraftfahrzeugtauglichkeit zu berücksichtigen.

Hinweis

Wird auch eine Stellungnahme im präklinischen Bereich allenfalls dann notwendig sein, wenn eine weiterführende Behandlung abgelehnt wird, ist eine Kenntnis der Leitlinien jedoch sinnvoll, um die Tragweite von Diagnosen zu erfassen.


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Arbeitsplatzsicherheit

Das oben für die Kraftfahrzeugtauglichkeit Gesagte gilt auch für den Arbeitsplatz. In den DGUV Informationen 250-001 werden ausführlich die beruflichen Einschränkungen für viele mit Eigen- und Fremdgefährdung oder ökonomischen Risiken einhergehende Berufe aufgelistet [20]. Für manche Berufe gelten Einschränkungen wie bei der Kfz-Tauglichkeitsregelung Gruppe 1, sodass eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt, bis der anfallsfreie Beobachtungszeitraum erfüllt ist. Für andere Berufe gelten gar die Regeln der Gruppe-2-Fahrzeuge, sodass die Aufnahme einer antikonvulsiven Medikation zu Unfähigkeit führt, den Beruf auszuüben (s. [Kasuistik 2]).

Kasuistik

Fallbeispiel 2

Ein 55-jähriger Erdbaumaschinenfahrer wird von Mitarbeitern bewusstseinsgemindert aufgefunden. Er ist etwas desorientiert und hat einen Zungenbiss. Der Vorgesetzte wird hinzugezogen, es wird der Rettungsdienst informiert, da es sich um einen Unfall während der Arbeitszeit handelte.

Im Notarztprotokoll steht: „Z. n. KA, ZB, Pat. +++“.

Es erfolgte die stationäre Aufnahme im örtlichen Krankenhaus. Hier zeigt sich bis auf einen apikalen Zungenbiss und eine Kopfplatzwunde okzipital ein unauffälliger körperlicher Untersuchungsbefund, ebenso unauffällige Blutwerte, inklusive Entzündungsparameter, CK, Alkohol. Es erfolgte die Einleitung einer antikonvulsiven Medikation mit Levetiracetam zur Vermeidung weitere Anfälle bei hohem Sicherheitsbedürfnis des Patienten. Weitere Ereignisse traten nicht auf.

In der Folge überprüfte die Berufsgenossenschaft die Frage, ob ein Arbeitsunfall vorgelegen hatte oder nicht. Das Auftreten eines Anfalls aus innerer Ursache erfüllt nicht die Kriterien eines Arbeitsunfalls: Die Behandlung erfolgt zulasten der Krankenkasse. Durch den Vorgang wurde dann auch dem Arbeitgeber apparent, dass der Patient nicht kraftfahrzeugtauglich ist, weder für das Führen des Pkws noch für Erdbaumaschinen. Eine Wiederaufnahme dieser Tätigkeit wäre nur ohne antikonvulsive Medikation möglich, es droht ein Arbeitsplatzverlust.

Die genaue Befragung ergibt: Der Patient hatte den Unterbau gesäubert. Über der Stelle befand sich ein Träger, beim Aufrichten stieß er sich an diesem und stürzte in eine Öllache (ölige Platzwunde dokumentiert), erlitt eine Schädelprellung und war daher benommen. Im weiteren Verlauf, Fremdanamnese wurde eingeholt, verhielt er sich, bis auf einen verständlichen Unwillen bei im Wesentlichen Beschwerdefreiheit, sich ins Krankenhaus zu begeben, unauffällig. In der Zusatzdiagnostik gibt es keinen Hinweis auf einen abgelaufenen epileptischen Anfall, bis auf den Zungenbiss, welcher jedoch apikal lokalisiert war, was untypisch für epileptische Anfälle ist und eher durch die locker sitzende Zahnprothese beim Anschlag gegen den Träger entstanden sein könnte.

Zusammengenommen ist das Vorliegen eines epileptischen Anfalls nicht wahrscheinlich. Eher handelt es sich um eine Schädelprellung. Eine Indikation zur antikonvulsiven Medikation besteht nicht und konnte abdosiert werden.

Es handelt sich um einen Arbeitsunfall, eine Einschränkung der Kraftfahrzeugtauglichkeit ergibt sich daher im Verlauf nicht.

Vorsicht: Die notärztliche Dokumentation der Hypothese „Zustand nach Krampfanfall“ tradierte sich in den Klinikbereich und wurde nicht weiter hinterfragt; diese Diagnosen können zu dramatischen Folgen für den Patienten führen.

Die Diagnose: „Unklare Bewusstlosigkeit, Pat. leicht benommen aufgefunden“ lässt die differenzialdiagnostischen Überlegungen, die im präklinischen Bereich nicht getroffen werden können, offen und vermeidet Fokussierung auf ein Krankheitsbild.


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Über die Autoren:

Randi von Wrede

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Jahrgang 1969, Dr. med. Fachärztin für Neurologie. Nach dem Studium der Humanmedizin an den Universitäten Kiel und Bonn Facharztausbildung am Nervenzentrum Bonn. Seit 2010 als geschäftsführende Oberärztin an der Klinik für Epileptologie der Universitätsklinik Bonn tätig. Klinische Epileptologin, Prüfärztin, Sachverständigentätigkeit.

Christian E. Elger

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Jahrgang 1949. Prof. Dr. med. Facharzt für Neurologie. Studium und Facharztausbildung in Münster, Habilitation in Münster, seit 1990 Direktor der Klinik für Epileptologie Bonn. Inhaber multipler Auszeichnungen und Ehrungen, u. a. Alfred-Hauptmann-Preis, Zülch-Preis, Hans-Berger-Preis, Europäischer ILAE-Preis (2012). Mitbegründer der Life and Brain GmbH, Editor/Associate Editor verschiedener Fachzeitschriften.

Interessenkonflikt: Dr. v. Wrede erhielt in den vergangenen drei Jahren Vortragshonorare, Forschungsvorhabenunterstützung (Studienambulanz), Honorare für Beratertätigkeiten von den Firmen Desitin, Eisai, GSK, Marinus, Novartis, SKLifescience, UCB, Upsher Smith. Prof. Dr. Elger erhielt in den vergangenen drei Jahren Vortragshonorare, Forschungsvorhabenunterstützung (Studienambulanz), Honorare für Beratertätigkeiten von den Firmen Cyberonics, Desitin, Eisai, Marinus, Novartis, SKLifescience, UCB, Upsher Smith.

  • Literatur

  • 1 Schmidt D, Elger CE. Praktische Epilepsiebehandlung. Stuttgart New York: Thieme; 2005
  • 2 AWMF Leitlinien. Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter, 2013. Im Internet: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-041.html Stand: 5/2015
  • 3 Forsgren L, Beghi E, Oun A et al. The epidemiology of epilepsy in Europe – a systematic review. Eur J Neurol 2005; 12: 245-253
  • 4 Kwan P, Brodie MJ. Early identification of refractory epilepsy. N Engl J Med 2000; 342: 314-319
  • 5 van den Broek M, Beghi E. RESt-1 Group. Accidents in patients with epilepsy: types, circumstances and complications: a European cohort study. Epilepsia 2004; 45: 667-672
  • 6 Souverein PC, Webb DJ, Petri H et al. Incidence of fractures among epilepsy patients: a population-based retrospective cohort study in the General Practice Research Database. Epilepsia 2005; 46: 304-310
  • 7 Napier RJ, Nolan PC. Diagnosis of vertebral fractures in post-ictal patients. Emerg Med J 2011; 28: 169-170
  • 8 Wirrell EC. Epilepsy-relates injuries. Epilepsia 2006; 47 (S1) 79-86
  • 9 Buck D, Baker GA, Jacoby A et al. Patientsʼ experiences of injury as a result of epilepsy. Epilepsia 1997; 38: 439-444
  • 10 Sheth SG, Krauss G, Krumholz A et al. Mortality in epilepsy: driving fatalities vs other causes of death in patients with epilepsy. Neurology 2004; 63: 1002-1007
  • 11 Surges R, Elger CE. Mortalität und plötzlicher unerwarteter Tod bei Epilepsie (SUDEP). Fortschr Neurol Psychiatr 2014; 82: 414-424
  • 12 Hoppe C, Poepel A, Elger CE. Epilepsy: accuracy of patient seizure counts. Arch Neurol 2007; 64: 1595-1599
  • 13 Cook MJ, OʼBrien TJ, Berkovic SF et al. Prediction of seizure likelihood with a long-term, implanted seizure advisory system in patients with drug-resistant epilepsy: a first-in-man study. Lancet Neurol 2013; 12: 563-571
  • 14 Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Rote Hand Brief: Arzneimittel, die Valproat und verwandte Substanzen enthalten: Risiko für Anomalien bei Neugeborenen. Dezember 2014.
  • 15 Tomson T, Marson A, Boon P et al. Valproate in the treatment of epilepsy in women and girls Recommendations from a joint Task Force of ILAE-Commission on European Affairs and European Academy of Neurology (EAN). Epilepsia 2015;
  • 16 Callaghan BC, Anand K, Hesdorffer D et al. Likelihood of seizure remission in an adult population with refractory epilepsy. Ann Neurol 2007; 62: 382-389
  • 17 Luciano AL, Shorvon SD. Results of treatment changes in patients with apparently drug-resistant chronic epilepsy. Ann Neurol 2007; 62: 375-381
  • 18 Schmidt D, Löscher W. Uncontrolled epilepsy following discontinuation of antiepileptic drugs in seizure-free patients: a review of current clinical experience. Acta Neurol Scand 2005; 111: 291-300
  • 19 Bundesanstalt für Straßenwesen. Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen Mensch und Sicherheit (Stand: 02. 11. 2009). Heft M 115: 49 – 53.
  • 20 Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung. DGUV Information 250-001: Berufliche Beurteilung bei Epilepsie und nach dem ersten Anfall. Januar 2015.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Randi von Wrede
Klinik für Epileptologie, Universität Bonn
Sigmund-Freud-Straße 25
53105 Bonn

  • Literatur

  • 1 Schmidt D, Elger CE. Praktische Epilepsiebehandlung. Stuttgart New York: Thieme; 2005
  • 2 AWMF Leitlinien. Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter, 2013. Im Internet: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-041.html Stand: 5/2015
  • 3 Forsgren L, Beghi E, Oun A et al. The epidemiology of epilepsy in Europe – a systematic review. Eur J Neurol 2005; 12: 245-253
  • 4 Kwan P, Brodie MJ. Early identification of refractory epilepsy. N Engl J Med 2000; 342: 314-319
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  • 7 Napier RJ, Nolan PC. Diagnosis of vertebral fractures in post-ictal patients. Emerg Med J 2011; 28: 169-170
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  • 14 Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Rote Hand Brief: Arzneimittel, die Valproat und verwandte Substanzen enthalten: Risiko für Anomalien bei Neugeborenen. Dezember 2014.
  • 15 Tomson T, Marson A, Boon P et al. Valproate in the treatment of epilepsy in women and girls Recommendations from a joint Task Force of ILAE-Commission on European Affairs and European Academy of Neurology (EAN). Epilepsia 2015;
  • 16 Callaghan BC, Anand K, Hesdorffer D et al. Likelihood of seizure remission in an adult population with refractory epilepsy. Ann Neurol 2007; 62: 382-389
  • 17 Luciano AL, Shorvon SD. Results of treatment changes in patients with apparently drug-resistant chronic epilepsy. Ann Neurol 2007; 62: 375-381
  • 18 Schmidt D, Löscher W. Uncontrolled epilepsy following discontinuation of antiepileptic drugs in seizure-free patients: a review of current clinical experience. Acta Neurol Scand 2005; 111: 291-300
  • 19 Bundesanstalt für Straßenwesen. Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen Mensch und Sicherheit (Stand: 02. 11. 2009). Heft M 115: 49 – 53.
  • 20 Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung. DGUV Information 250-001: Berufliche Beurteilung bei Epilepsie und nach dem ersten Anfall. Januar 2015.

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