Zeitschrift für Palliativmedizin 2025; 26(01): 17-22
DOI: 10.1055/a-2480-9805
Forum

Theorien und Modelle in der empirischen Palliativforschung

Kerstin Kremeike
,
Maria Heckel
,
Franziska A. Herbst
,
Sophie Meesters
 

Das Ziel des Artikels ist es, die Bedeutung, Chancen und Grenzen der theoretischen Fundierung in der Palliativforschung durch Anwendung von Theorien und Modellen aufzuzeigen. Forschende sollen angeregt werden, Theorien und Modelle zur Strukturierung, Orientierung und Weiterentwicklung der Palliativforschung explizit zu nutzen und zu beschreiben.


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Hintergrund

Palliativforschung umfasst die wissenschaftliche Erhebung der Versorgung und Begleitung von schwerkranken und sterbenden Menschen sowie ihrer An- und Zugehörigen [1]. Sie ist – ebenso wie die Palliativversorgung – multiprofessionell und interdisziplinär. Multiprofessionalität meint dabei die Kooperation verschiedener, z. B. medizinischer, pflegerischer oder psychosozialer Berufsgruppen, während Interdisziplinarität – etwa in der Forschung – die Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachbereiche wie Sozial- und Kulturanthropologie, Pflegewissenschaft und Soziologie bezeichnet [1].

Merke

Palliativforschung vereint naturwissenschaftliches mit verhaltens-, geistes- und sozialwissenschaftlichem Forschungsverständnis. Dadurch kommt in diesem Forschungsfeld ein breites Spektrum an Theorien und Modellen zum Tragen.

Während in der naturwissenschaftlichen Forschung überwiegend theorieprüfend vorgegangen wird, arbeiten Disziplinen wie die Sozial- und Kulturanthropologie oder die Soziologie häufiger theoriegenerierend [2]. Im Unterschied zu den meisten medizinischen Zeitschriften fordern geistes- und sozialwissenschaftlich geprägte Zeitschriften oft auch eine explizite Benennung des zugrunde liegenden theoretischen Ansatzes bzw. der in Studien angewandten theoretischen Modelle (z. B. OMEGA J Death Dying, Medical Anthropology) oder widmen sich diesen sogar explizit (z. B. Social Theory & Health). Auch Palliative Medicine, eine der hochrangigsten internationalen palliativmedizinischen Zeitschriften, fordert bei der Manuskripteinreichung für qualitative Studien die Darlegung des spezifischen Forschungsansatzes sowie seine epistemologische und ontologische Begründung (zu den Begriffen s. [ Tab. 1 ]).

Tab. 1

Begrifflichkeiten.

Begriff

Erläuterung

Wissenschaftstheorie

Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeiten und deren Grenzen, durch die methodisch verfahrende Forschungen empirische Wahrheit, Sinn und Bedeutung hervorbringen [6].

Epistemologie

Erkenntnistheorie; bezieht sich auf die Beziehung zwischen der forschenden Person und dem, was bekannt ist. Sie bestimmt, welche Arten von Wissen möglich sind und wie deren Legitimität sichergestellt werden kann [7].

Ontologie

Lehre vom Sein; befasst sich mit der Frage, was bekannt ist und wie die Realität gesehen wird. Sie beeinflusst, wie die forschende Person die Natur der Realität wahrnimmt und ob sie diese als objektiv gegeben oder als sozial konstruiert ansieht [7].

Positivismus

Besagt, dass die soziale Welt objektiv und wertfrei erforscht werden kann [7].

Konstruktivismus

Geht davon aus, dass Wissen nicht entdeckt, sondern sozial konstruiert wird. Die forschende Person und das Forschungsobjekt beeinflussen sich gegenseitig, und das Ziel der Forschung ist es, das Verständnis der verschiedenen Konstruktionen von Wirklichkeit zu erschließen, anstatt objektive Wahrheiten zu finden [7].

Transformatives Paradigma

Erkennt an, dass Wissen und Realität von sozialen, kulturellen und politischen Kontexten geprägt sind [3].

Pragmatismus

Die pragmatische Überzeugung betont die Anwendung von Wissen zur Suche nach Lösungen für Probleme. Dabei steht der Forschungsgegenstand im Vordergrund und nicht die Methoden selbst [3].

Das entscheidende Potenzial theoretischer Fundierung von Forschung liegt im Explizieren von Annahmen und der Qualitätssicherung. Theoretische Fundierung begründet Entscheidungen zu Forschungsfragen, Methodenwahl, Maßnahmen und Interventionen [3] [4]. Sie hilft außerdem, Ergebnisse vorherzusagen und zu interpretieren. Es lassen sich 3 Ebenen der theoretischen Fundierung unterscheiden [5], die auch für die Palliativforschung relevant sind:

  • Wissenschaftstheoretische Grundlagen als Basis für die Strukturierung und Ausrichtung einer Forschungsarbeit [5] [6]. Dazu können beispielsweise positivistische, konstruktivistische, transformative oder pragmatische Überzeugung und Vorannahmen gehören ([ Tab. 1 ]) [3].

  • Normative Grundannahmen, die in den wissenschaftlichen Arbeitsprozess einfließen. Dies betrifft vor allem implizite und explizite Entscheidungen, die über technisch-methodische Überlegungen, wie die Wahl der Forschungsfrage oder der Studienpopulation, hinausgehen.

  • Theorien und Modelle, auf die bei der Umsetzung des spezifischen Forschungsprozesses zurückgegriffen wird. Sie beziehen sich inhaltlich auf den Forschungsgegenstand und variieren je nach Forschungsfrage und Fachdisziplin. Theorien und Modelle sind in allen Phasen des Forschungsprozesses relevant.


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Definitionen und verschiedene Arten von Theorien und Modellen

Auf den 3 Ebenen der theoretischen Fundierung begegnen uns jeweils Theorien und Modelle mit unterschiedlichen Funktionen und Reichweiten.

Definitionen

Theorien können definiert werden als „eine Reihe von analytischen Prinzipien oder Aussagen, die dazu dienen, unsere Beobachtung, unser Verständnis und unsere Erklärung der Welt zu strukturieren, zu ordnen und zugehörige Gegenstände sowie deren Beziehung untereinander zu beschreiben“ [8].

Modelle werden aus Theorien abgeleitet und tragen zum besseren Verständnis der Wirklichkeit bei. Sie werden daher auch als deskriptive Theorien für eng definierte Phänomene oder Theorien mittlerer Reichweite bezeichnet [8] [9].

Ein weiterer Begriff, der in der Literatur verwendet wird, ist Framework oder Rahmenwerk. Frameworks bieten, meist a priori verwendet, einen Überblick und damit Bezugsrahmen über beschreibende Kategorien oder ihre Beziehungen, von denen angenommen wird, dass sie ein Phänomen erklären können [4]. Sie werden unter anderem genutzt, um die Umsetzung von Innovationen zu planen, zu bewerten und zu erklären [10] [11]. Theoriegenerierende Forschungsmethoden, beispielsweise Grounded-Theory-Ansätze, münden häufig in der Zusammenführung der Ergebnisse zu einem Framework, das aber meist eine viel engere Fragestellung abbildet als das zuvor beschriebene Verständnis eines Frameworks [12] [13].


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Beispiele für Modelle und Theorien im Palliativbereich

Die Hospiz- und Palliativbewegung basiert auf einem ganzheitlichen Ansatz der Versorgung und Begleitung. Bereits ihre Begründerin Cicely Saunders vereinte dank ihrer beruflichen Sozialisation die medizinische mit der pflegerischen und psychosozialen Perspektive. Als Grundlage für diese Sichtweise kann das biopsychosoziale Modell [14] gesehen werden, das in der Palliativversorgung [15] und -forschung [16] noch um die spirituelle Dimension ergänzt wird. Außerdem wird eine zusätzliche gesellschaftliche Dimension beschrieben, die sich verändernde Werte und Normen umfasst, z. B. im Hinblick auf die Debatte um selbstbestimmtes Sterben oder die sich stetig weiterentwickelnde Palliativversorgung und -forschung [1].

Eine wichtige normative Grundlage, etwa für Therapieentscheidungen in der letzten Lebenszeit, stellt das medizinethische 4-Prinzipien-Modell nach Beauchamp und Childress dar [17]. Die darin beschriebenen Prinzipien ethischen Handelns in der Medizin umfassen

  • das Selbstbestimmungsrecht der Patient:innen,

  • die Schadensvermeidung,

  • das Patient:innenwohl und

  • die soziale Gerechtigkeit.

Diese Prinzipien sollen dazu dienen, ethische Diskurse zu versachlichen und zu strukturieren. Damit lassen sich Herausforderungen beschreiben, um darauf basierend gute Gründe rational abzuwägen und individuelle Lösungen im Sinne des Patient:innenwohls zu finden.

Für die Sicherstellung des Selbstbestimmungsrechts ist auch die Unterscheidung von Kranksein („illness“) und Krankheit („disease“) [18] [19] zentral. Der Sozialanthropologe und Psychologe Arthur Kleinman differenzierte zwischen dem subjektiv erlebten Kranksein von Patient:innen sowie ihrer An- und Zugehörigen („illness“) und der ärztlich-professionellen Sicht auf eine „Krankheit“ („disease“). Diese beiden Perspektiven können sich überschneiden, sind aber nicht deckungsgleich. Insbesondere für eine gemeinsame Entscheidungsfindung ist eine Vermittlung zwischen professioneller und Patient:innen- bzw. Angehörigensicht elementar. Kleinman schlug für die Erfassung der Betroffenenperspektive Kernfragen vor, die auch in der Palliativversorgung aufgegriffen wurden [20].

Um die Rolle der sozialen Netze Betroffener zu erfassen und zu analysieren, beschrieb der Anthropologe John M. Janzen die Therapy Managing Group [21] [22], die eine Vermittlungsfunktion zwischen Betroffenen und professionell Versorgenden hat [21]. Dieses Konzept wurde von Ntizimira (2023) in der Palliativforschung indirekt aufgegriffen; mit Verweis auf das ruandische Sprichwort „Wenn es dir gut geht, gehörst du dir selbst. Wenn du aber krank bist, gehörst du zu deiner Familie“ wird hervorhoben, dass sich Patient:innenautonomie und Verantwortung der Gemeinschaft überschneiden [23]. Diese Sichtweise spiegelt sich z. B. auch in den Bemühungen um die Entwicklung von Caring Communities bzw. sorgenden Gemeinden wider.

Merke

Für die palliative Pflege zeigen aktuelle Übersichtsarbeiten [24] [25], dass kein Konsens bezüglich der Verwendung einer spezifischen Theorie besteht. Die Anwendung verschiedener Theorien kann in unterschiedlichen Kontexten und bei verschiedenen Populationen zu einer nachhaltigen Reflexion beitragen.

Beispielhaft sei hier die Humanistische Pflegetheorie nach Paterson und Zderad [26] skizziert, die von Wu und Volker [27] in den Palliativversorgungskontext gesetzt wurde: Diese Theorie betont die gelebte Erfahrung der Pflege und konzentriert sich auf die Pflegefachperson-Patient:in-Beziehung als existenzielle Begegnung zwischen Individuen. Pflege ist dabei ein dialogischer intersubjektiver Prozess, bei dem sowohl die Pflegefachperson als auch die/der Patient:in durch ihre Interaktion und Erfahrungen wachsen. Pflegefachpersonen werden dabei zu Selbstreflexion und Selbstwahrung ermutigt. Die Theorie fördert einen ganzheitlichen Ansatz in der Versorgung, der die physischen, emotionalen, sozialen und spirituellen Bedürfnisse der/des Patient:in berücksichtigt.


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Einsatz von Theorien und Modellen in der Palliativforschung

Jedes Forschungsprojekt ist von der Entwicklung der Forschungsfrage bis hin zur Ergebnisverwertung von Annahmen und Interessen geprägt – sowohl seitens der Forschenden als auch durch das Forschungsfeld [3] [4]. Die theoretische Fundierung hilft, wissenschaftstheoretische Grundlagen (Ebene 1) sowie normative Grundannahmen (Ebene 2) zu explizieren. Sie bietet dabei ein Rahmenwerk für den Forschungsansatz, das Design und die epistemologischen sowie ontologischen Positionen ([ Tab. 1 ]) [28]. Im spezifischen Forschungsprozess (Ebene 3) kann die theoretische Fundierung an verschiedenen Stellen sinnvoll sein [4], z. B. für

  • die Entwicklung der Forschungsfrage, von Messinstrumenten und Interventionen,

  • die Datenanalyse und/oder

  • die Voraussage (Prädiktion), Interpretation und das Verstehen von Ergebnissen.

Die Kombination verschiedener Theorien und Modelle, abhängig von Thema und Vorgehen, ist oft sinnvoll, wobei die Auswahl stets von der Zielsetzung der Studie geleitet sein sollte [4]. Außerdem ist zu berücksichtigen, inwieweit die ausgewählten Theorien und Modelle auf den eigenen Kontext angepasst werden können/sollten [28]. Der Einsatz theoretischer Fundierung trägt dann idealerweise zu ihrer Überprüfung und Weiterentwicklung bei [4].

[ Tab. 2 ] gibt einen Überblick über Studien aus der Palliativforschung, die innerhalb der 3 genannten Ebenen theoretische Fundierung eingesetzt haben. Für die Auswahl der Studien wurden zunächst Publikationen der Autorinnengruppe berücksichtigt. Sofern keine entsprechenden Studien vorlagen, wurden geeignete Studien auf nationaler und nachfolgend auf internationaler Ebene herangezogen. Eine eindeutige Zuordnung der Studien zu einer der 3 genannten Ebenen ist nicht möglich, da Theorien und Modelle in den meisten Fällen auf mehreren Ebenen Anwendung finden.

Tab. 2

Beispiele theoretischer Fundierung in der empirischen Palliativforschung.

Beispielstudien

Theorie/Modell

Erläuterung

Ebene 1: Wissenschaftstheoretische Grundlagen

Studie 1: Heckel M, Sturm A, Stiel S et al. '… and then no more kisses!' Exploring patients' experiences on multidrug-resistant bacterial microorganisms and hygiene measures in end-of-life care A mixed-methods study. Palliat Med 2020; 34(2): 219–230

auf Pragmatismus und Konstruktivismus basierender epistemiologischer Ansatz

Ausgehend von einem erkenntnistheoretischen Ansatz, der Pragmatismus und Konstruktivismus vereint, wurde ein Mixed-Methods-Design als am besten geeignet erachtet, um die Forschungsfrage zu beantworten.

Studie 2: Herbst FA, Stiel S. „Has anyone been there now?“: An interview study on the support experiences and unmet needs of informal long-distance caregivers for patients at the end of life. Omega (Westport) 2024: 302228241243110

interpretativ-konstruktivistischer Ansatz

Innerhalb der Grounded Theory wurde ein interpretativ-konstruktivistischer Ansatz verwendet, um Hypothesen abzuleiten.

Ebene 2: Normative Grundannahmen

Studie 3: Mackinnon CJ. Applying feminist, multicultural, and social justice theory to diverse women who function as caregivers in end-of-life and palliative home care. Palliat Support Care 2009; 7(4): 501–12

Feminismus, Kulturtheorie, Theorie der sozialen Gerechtigkeit

Die Erfahrungen von Frauen, die An- und Zugehörige am Lebensende versorgen, werden anhand der genannten Theorien fokussiert. Die Anwendung der Theorien soll verhindern, dass sich geschlechterspezifische und ethnozentrische Konstrukte in der Forschung selbst erhalten und die Erfahrungen der Frauen entsprechend kontextualisieren.

Studie 4: Marcewicz L, Kunihiro SK, Curseen KA et al. Application of critical race theory in palliative care research: A scoping review. J Pain Symptom Manage 2022; 63(6): e667–e684

Critical Race Theory

Die Autor:innen untersuchen die Darstellung von ethnischem Hintergrund und ethnischen Unterschieden in Behandlungsergebnissen in der Palliativforschung. Unter Anwendung der Critical Race Theory entwickelten sie ein Framework zur Durchführung der Studie.

Ebene 3: Bezug auf Theorie für den spezifischen Forschungsprozess

Studie 5: Hodiamont F, Jünger S, Leidl R et al. Understanding complexity – the palliative care situation as a complex adaptive system. BMC Health Serv Res 2019; 19(1): 157

Theory of complex adaptive Systems

„Komplexität” wird im Bereich der Palliativversorgung häufig verwendet, ist aber nicht definiert. Die Autor:innen verwenden die genannte Theorie, um ein Framework zu erstellen, um das Verständnis von „Komplexität“ zu verbessern und komplexe Probleme von Palliativsituationen darin zu verorten.

Bereiche: Entwicklung der Forschungsfrage & Messinstrumente, Datenanalyse, Interpretation von Ergebnissen

Studie 6: Kauzner S, Schneider M, Heckel M et al. Wie lässt sich der Erfolg einer komplexen Intervention in der spezialisierten Palliativversorgung messen? Auswahl von geeigneten Outcome Parametern am Beispiel des Projektes iSedPall. Med Sci 2023. DOI: 10.3205/23dkvf465

nutzerzentrierter Entwicklungsansatz

Theory of Change

Im Rahmen eines nutzerzentrierten Entwicklungsansatzes und in enger Zusammenarbeit mit Stakeholdern wurden Zielgruppen identifiziert und die Ergebnisse der Intervention abgeleitet. Dieser Prozess wurde durch die Theory of Change unterstützt.

Bereich: Entwicklung von Messinstrumenten

Studie 7: Kremeike K, Ullrich A, Schulz H et al. Dying in hospital in Germany – optimising care in the dying phase: study protocol for a multi-centre bottom-up intervention on ward level. BMC Palliat Care 2022; 21(1): 67

Consolidated Framework for Implementation Research

Zur Analyse von relevanten Einflussfaktoren auf eine Intervention zur Optimierung der Versorgung in der Sterbephase auf Krankenhausstationen wurde das Consolidated Framework for Implementation Research (CFIR 2.0) angewendet.

Bereich: Analyse von Daten

Studie 8: Meesters S, Ohler K, Kremeike K et al. How can a community be successfully empowered to deal with death, dying, and bereavement? -formative evaluation of the Caring Community Cologne using focus groups. Ann Palliat Med 2024; 13(4): 778–790

Throughput Model

Die Ergebnisse einer Evaluation der Implementierung der Caring Community Köln mittels Fokusgruppen wurden in das Throughput Model übertragen, das eine Grundlage für die Abbildung von Arbeitsabläufen und die Entwicklung von Evaluationsplänen darstellt.

Bereich: Interpretation von Ergebnissen

Studie 9: Roewer, HAA, Stiel S, Herbst FA. The influence of family communication on experienced relief and burden at the end of life – an explorative analysis of qualitative data of parent – adult child dyads. Illness, Crisis & Loss 2023. DOI: 10.1177/10541373231195448

Circumplex-Modell familiärer Systeme [29]

Interviewdaten zur familiären Kommunikation zwischen Elternteilen und erwachsenen Kindern in Situationen am Lebensende wurden u. a. anhand des Circumplex-Modells analysiert. Das Modell betrachtet 3 Dimensionen familiärer Systeme: Kohäsion, Adaptabilität und Kommunikation. Diese Aspekte wurden für die Interviewanalyse in ein Codesystem übertragen und durch Codes ergänzt, die deduktiv aus der Forschungsfrage entwickelt wurden.

Bereich: Analyse von Daten


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Relevanz von Theorien und Modellen im Palliativbereich

Theoretische Fundierung hat sowohl für die Palliativforschung als auch für die Palliativversorgung große Relevanz. Ein wesentlicher Vorteil liegt darin, dass Annahmen und Ansichten expliziert und kontextualisiert werden können. Für den Palliativbereich, der sich durch die Zusammenarbeit interdisziplinärer und multiprofessioneller Teams auszeichnet, erleichtert das die fächerübergreifende Kommunikation und fördert ein gegenseitiges Verständnis.

Trotz des großen Potenzials theoretischer Fundierung gibt es für den Palliativbereich auch spezifische Herausforderungen. Aktuelle Reviews zeigen, dass theoretische Fundierung in der Palliativforschung noch zu selten genutzt wird und es der Entwicklung eigener Theorien und Modelle für den Bereich bedarf [13] [24] [25] [30]. Idealerweise trägt die Forschung zur Weiterentwicklung theoretischer Fundierung bei, während diese wiederum Forschung und klinische Praxis leitet [4] [13] [28].

Eine Studie von Tark et al. identifizierte zwar 44 konzeptionelle und theoretische Frameworks für die Palliativforschung, mehr als die Hälfte davon wurden nach ihrer Entwicklung jedoch nicht weiterverwendet [13]. Durch die Nutzung und Weiterentwicklung bestehender Theorien und Modelle können Ressourcen jedoch effizienter genutzt und relevante Erkenntnisse schneller in die Praxis übertragen werden. Dies kommt sowohl der Palliativversorgung als auch der Forschung zugute.

Merke

Statt immer neue Frameworks zu entwickeln, gilt es daher, wenn passend, bestehende theoretische Fundierungen zu nutzen und weiterzuentwickeln.

Ein tiefes Verständnis und die kritische Auseinandersetzung mit vorhandenen Theorien und Modellen ist dafür zentral [28]. Besonders im Palliativbereich, der aufgrund seiner interdisziplinären Ausrichtung eine Vielzahl theoretischer Ansätze umfasst, kann die Auswahl herausfordernd sein. Hier ist es hilfreich, die Suche nach geeigneten Theorien und Modellen mit der Literaturrecherche zur Identifikation der Forschungslücke zu verbinden [4].

Das vertiefte Einarbeiten in Theorien und Modelle ist anspruchsvoll und zeitintensiv, aber auch lohnenswert. [ Tab. 2 ] bietet einen Überblick darüber, inwiefern Studien konkret von der Anwendung von theoretischer Fundierung profitieren können. So liegt ein großes Potenzial der theoretischen Fundierung etwa in der Möglichkeit, Forschungsergebnisse zu interpretieren und einzuordnen, was die Aussagekraft von Forschung erhöht ([ Tab. 2 ], Studien 2, 5 und 8). Darüber hinaus können Ergebnisse auf ähnliche Kontexte oder Populationen übertragen werden, was die Generalisierbarkeit und Vergleichbarkeit verbessert [3] [4] [28]. Die Definition von Variablen, (kausalen) Zusammenhängen sowie deren Analyse werden basierend auf theoretischer Fundierung vorab konzipiert, was Transparenz schafft ([ Tab. 2 ], Studie 6).

Merke

Gerade die Palliativversorgung/-forschung als vergleichsweise junge Disziplin kann erheblich davon profitieren, dass bestehendes Wissen genutzt, auf den eigenen Kontext angepasst und weiterentwickelt wird.

Hintergrundinfo

Literaturempfehlungen zu Theorien und Modellen mit Relevanz für die Palliativforschung

  • Barnard A. History and theory in anthropology. 2. Aufl. Cambridge: Cambridge University Press; 2021. DOI: 10.1017/9781108936620

  • Brearley SG, Walshe C. Introduction to the handbook of theory and methods in applied health research. In: Brearley SG, Walshe C, Hrsg. Handbook of theory and methods in applied health research. Cheltenham: Edward Elgar Publishing; 2020: 1–3

  • Creswell JW. Chapter 3: The use of theory. In: Creswell JW, Creswell JD. Research design: qualitative, quantitative, and mixed methods approaches. 3rd ed. Los Angeles: Sage; 2009: 49–71

  • Pfaff H, Schmitt J. Reducing uncertainty in evidence-based health policy by integrating empirical and theoretical evidence: an EbM + theory approach. J Eval Clin Pract 2023; 29: 1279–1293. DOI: 10.1111/jep.13890

  • Ritzer G, Smart B, Hrsg. Handbook of social theory. London: Sage; 2003

  • Thomas G. What’s the use of theory? Harv Educ Rev 1997; 67: 75–104. DOI: 10.17763/haer.67.1.1x807532771w5u48

  • Wensing M, Ullrich C. Use of theories in health services research. In: Wensing M, Ullrich C, Hrsg. Foundations of health services research. Cham: Springer; 2023; 37–47. DOI: 10.1007/978–3-031–29998–8_3


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Schlussfolgerungen

  • Palliativforschung vereint verschiedene Forschungsverständnisse und kann damit auf ein breites Spektrum an Theorien und Modellen zurückgreifen.

  • Theoretische Fundierung ist in allen Phasen des Forschungsprozesses relevant; von der Entwicklung der Forschungsfrage über Messinstrumente und Interventionen bis hin zur Datenanalyse und Ergebnisinterpretation.

  • Die theoretische Fundierung der eigenen Forschung ist anspruchsvoll und gleichzeitig sehr lohnenswert, denn sie fördert die Strukturierung, Orientierung und Weiterentwicklung der Palliativforschung.

  • Dabei gilt es, wo möglich, auf bestehende Theorien und Modelle zurückzugreifen und diese weiterzuentwickeln.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

PD Dr. rer. medic. Kerstin Kremeike
Zentrum für Palliativmedizin
Universitätsklinikum Köln
Kerpener Straße 62
50937 Köln
Deutschland   

Publication History

Article published online:
03 January 2025

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