retten! 2025; 14(01): 26-35
DOI: 10.1055/a-2118-1568
Fachwissen

HWS-Orthesen – State of the Art oder veraltetes Immobilisationstool?

Tim Sauerbier
,
Karoline Brand
 

Ein viel diskutiertes Thema auf einer Rettungswache ist die Immobilisierung der Halswirbelsäule. Soll sie nun noch durchgeführt werden, oder ist deren Anwendung nicht mehr der Standard?


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Abkürzungen

AANS: American Association of Neurological Surgeons
ABCDE: Airway – Breathing – Circulation – Disability – Exposure/Examination
AR: Atemfrequenz
BWS: Brustwirbelsäule
BZ: Blutzucker
GCS: Glasgow Coma Scale
HWS: Halswirbelsäule
MILS: manuelle Inline-Stabilisierung
NEF: Notarzteinsatzfahrzeug
NRS: Numerische Rating-Skala
Rekap.: Rekapilarisierungszeit
RTW: Rettungstransportwagen
SHT: Schädel-Hirn-Trauma
SpO2 : pulsoxymetrisch gemessene Sauerstoffsättigung

In vielen Rettungsdienstbereichen zählte die die HWS-Immobilisation zu einer Standardmaßnahme bei Traumapatienten. Groß war die Angst vor Folgeschäden für den Patienten oder einer Klage aufgrund nicht sachgemäßer Behandlung [1]. In diesem Artikel werden die aktuelle Datenlage, die Anwendung und die Leitlinienempfehlungen dargestellt.


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Allgemeines zu HWS-Orthesen

Für die HWS-Orthesen werden verschiedene Synonyme verwendet. Bekannt sind unter anderem: HWS-Stützkragen, Halskrause, Zervikalstütze, Halskrawatte. In ihrem allgemeinen Aufbau sind sie jedoch fast alle gleich. Sie verfügen über einem festen äußeren Kragen, der zumeist aus Kunststoff besteht. Der Innenbereich wird mit Schaumstoff umrandet, um Druckstellen o.Ä. zu vermeiden. Je nach Hersteller variiert das äußere Erscheinungsbild. Es gibt in der Größe nicht verstellbare HWS-Orthesen und größenverstellbare [2]. In der Präklinik werden starre HWS-Orthesen verwendet. Für die ambulante ärztliche Behandlung sind zumeist weiche HWS-Orthesen im Einsatz.

Die Halswirbelsäule besteht aus 7 Wirbelkörpern. Die Halswirbel 1 und 2 unterscheiden sich in ihrem Aufbau von den übrigen Gelenken. Der 1. Halswirbel (Atlas) ist ringförmig aufgebaut und besitzt keinen Wirbelkörper oder Dornfortsatz. Die Besonderheit des 2. Halswirbels ist der zahnförmige Aufbau (Dens axis). Die Spitze des 2. Halswirbels kommt durch den ringförmigen Aufbau des Atlas. Dieser Aufbau ermöglicht die große Beweglichkeit der Kopfgelenke [2].

Eine HWS-Orthese wird dann angewendet, wenn von den Rettungskräften eine Verletzung der Halswirbelsäule nicht sicher auszuschließen ist. HWS-Orthesen, die richtig angelegt werden, verringern die Bewegungsfreiheit von Kopf und Hals merklich. Sie enden zumeist oberhalb der Halswirbelkörper C6/C7. Dem Patienten wird zusätzlich das Gefühl vermittelt, dass die Rettungskräfte möglichst die Bewegung im betroffenen Bereich verhindern wollen. Allerdings bewirkt diese starre Position ein Unwohlsein und Gefühl des Eingeengtseins bei den Patienten. Die Entwicklung von Angstzuständen aufgrund dieser Positionierung ist möglich [2].

Fallbeispiel

Sie werden als RTW-Besatzung mit der Einsatzmeldung: „Z.n. Sturz >4 m“ alarmiert. Ein NEF ist momentan nicht verfügbar.

Sie benötigen ca. 10 min bis zum Einsatzort. Vor Ort angekommen, schildert die Ehefrau, dass ihr Mann am Hausdach Arbeiten verrichten wollte und beim Heruntersteigen die Leiter umgefallen ist. Dabei fiel er ungebremst auf die Terrasse. Dort wurde er aufgrund der Sorge vor weiteren Verletzungen in der ursprünglichen Position liegen gelassen.

Sie sprechen den Patienten an, er reagiert sofort und äußert Schmerzen im Wirbelsäulenbereich. Ihr Kollege immobilisiert direkt mit seinen Händen den Kopf des Patienten.

Sie beginnen ihre fokussierte ABCDE-Untersuchung.

  • A: Atemwege frei, Hartspann über der Halswirbelsäule

  • B: Pulmo beidseits gut belüftet, AF: 22, SpO2: 96%

  • C: Puls gut tastbar, rhythmisch, regelmäßig, Frequenz: 104 bpm, Rekap. bei 3 s

  • D: GCS: 15, BZ 5,8 mmol/l

  • E: Schmerzen in der Wirbelsäule (NRS: 3)

Im 10 for 10 äußern Sie nun folgende Befunde: Der Patient ist potenziell kritisch. Sie benötigen als Nächstes die Vitalparameter und beginnen mit der Überlegung, ob eine Ganzkörperimmobilisation notwendig ist.

Praxistipp

Nähern Sie sich dem Traumapatienten von vorn. Sprechen Sie ihn deutlich an. Wichtig ist, dass er im Moment der Ansprache nicht den Kopf zu den Rettungskräften umdreht.

Eine Möglichkeit der Ansprache wäre: „Bewegen Sie Ihren Kopf nicht, schauen Sie geradeaus. Hier ist der Rettungsdienst, und wir helfen Ihnen. Mein Kollege kommt direkt zu Ihnen und fixiert ihren Kopf.“

Bei dem Verdacht auf ein HWS-Trauma muss zeitnah der Kopf des Patienten fixiert werden. Am besten geht dies mittels einer sog. manuellen Inline-Stabilisierung (MILS).


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Indikation für eine HWS-Orthese/Ganzkörperimmobilisation

Im Folgenden werden 3 Entscheidungshilfen vorgestellt. Die Nexus-Kriterien und die Canadian C-Spine Rules sind klinische Entscheidungshilfen für die Röntgendiagnostik. Die Immo-Ampel ist die neueste Entscheidungshilfe und wurde auf Grundlage der Daten des TraumaRegisters erstellt. Sie wurde speziell für die Präklinik entwickelt.

Nexus-Kriterien

Diese wurden im Rahmen der Nationalen Emergency X-Radiographie Utilization Study im Jahr 2000 veröffentlicht. Die 5 aufgeführten Punkte sollen bei der Entscheidung helfen, ob nach einem HWS-Trauma ein bildgebendes Verfahren indiziert ist. In der Präklinik wurden die Kriterien für die Entscheidung einer Ganzkörperimmobilisation übernommen. Die Kriterien sind:

  • fehlender Druckschmerz über der Mittellinie der HWS

  • kein fokal neurologisches Defizit

  • normale Vigilanz (GCS 15)

  • kein Hinweis auf eine Intoxikation

  • keine weiteren von der HWS-Verletzung ablenkenden anderen schweren Verletzungen

Ist ein Kriterium erfüllt, soll eine Immobilisation stattfinden. In der Studie wurde eine Sensitivität von 99,6% gezeigt [3].


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Canadian C-Spine Rules

Diese dienen ebenso wie die Nexus-Kriterien der Entscheidungsfindung, ob ein bildgebendes Verfahren notwendig ist. Es wird zwischen Hochrisikofaktoren und Niedrigrisikofaktoren unterschieden.

Die Hochrisikofaktoren sind:

  • Alter > 65 Jahre

  • gefährlicher Unfallmechanismus (z.B. Sturz aus mehr als 2 m Höhe, Schlag oder Sturz auf den Kopf)

  • Parästhesien in den Extremitäten

Ist eines der 3 Kriterien erfüllt, soll ein bildgebendes Verfahren klinisch oder eine Ganzkörperimmobilisation präklinisch erfolgen.

Zu den Niedrigrisikofaktoren gehören:

  • einfacher Auffahrunfall

  • ambulanter Aufnahmestatus

  • sitzende Position in der Ambulanz

  • verzögerter Schmerzbeginn

  • fehlender Druckschmerz

Sind diese Kriterien erfüllt, wird die Halswirbelsäule auf eine Rotationsfähigkeit von 45° hin überprüft. Ist diese problemlos möglich, kann klinisch auf ein bildgebendes Verfahren und präklinisch auf eine Ganzkörperimmobilisation verzichtet werden [4].


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Immo-Ampel

Eine weitere Möglichkeit zur Indikationsstellung für eine präklinische Ganzkörperimmobilisation ist die „Immo-Ampel“. Die Patienten werden in 3 Kategorien entsprechend den Ampelphasen eingeteilt: Rot, Gelb und Grün (s.a. Infobox):

  • Der rot eingestufte Patienten wird ganzkörperimmobilisiert.

  • Der gelb eingestufte Patient ist mit einer Bewegungseinschränkung zu lagern.

  • Der grün eingestufte Patient ist nicht zu immobilisieren.

Praxistipp

Einstufung in der Immo-Ampel

Rot

  • offensichtlich schwer verletzt

  • SHT mit einer GCS ≤12

  • peripheres neurologisches Defizit

  • behandlungsbedürftiger Wirbelsäulenschmerz mit einer NRS ≥5

Ist ein Kriterium erfüllt, soll eine Ganzkörperimmobilisation durchgeführt werden.

Gelb

  • Sturz aus >3 m Höhe

  • schwere Rumpfverletzung

  • supraklavikulare Verletzung

  • Patientenalter >65 Jahre

Ist ein Kriterium erfüllt, soll eine Bewegungseinschränkung durchgeführt werden.

Grün

  • keins der zuvor genannten Kriterien erfüllt

  • isoliert penetrierendes Trauma des Rumpfes

In diesen Situationen kann auf eine Immobilisation verzichtet werden.

(nach [5] )

Merke

Es ist wichtig, eine der 3 Entscheidungshilfen im Kopf zu haben und anzuwenden. Es ist nicht notwendig alle 3 zusammen anzuwenden! Für den Rettungsdienstmitarbeiter sollte dennoch der Grundsatz zählen: Im Zweifel die HWS-Orthese anlegen.

Fallbeispiel

Nach erfolgter Überprüfung der Vitalparameter (Blutdruck 135/80 mmHg, Herzfrequenz 108 bpm, Sinusrhythmus) entscheiden Sie, dass keine Analgesie notwendig ist.

Bezüglich der Immobilisation wägen Sie die Ihnen bekannten diagnostischen Tools ab. Laut Nexus-Kriterien ist der Hartspann über der Halswirbelsäule gegeben. Entsprechend den Canadian C-Spine Rules ist der Hochrisikofaktor gefährlicher Unfallmechanismus gegeben. Bei Anwendung der Immo-Ampel sind keine Kriterien für eine vollständige Immobilisation erfüllt. Der Sturz aus 4 m Höhe ist eines der Kriterien, das eine Bewegungseinschränkung nach sich zieht.

Der Teamführer kommt zu dem Ergebnis, dass er eine Immobilisation durchführen sollte.


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Kontraindikationen/Nachteile einer HWS-Orthese

Absolute Kontraindikationen für die Anwendung einer HWS-Orthese sind nicht vorhanden. Als relative Kontraindikationen gelten Verletzungen im Kinn-, Schlüsselbein- und Schulterbereich. Des Weiteren wird bei einem vorliegenden höhergradigen SHT darauf hingewiesen, dass es mit Anlage der HWS-Orthese eventuell zu einem Anstieg des Hirndruckes kommen kann. Durch den potenziellen Druck der Orthese auf die V. jugularis interna kann es eine Einschränkung im venösen Rückstrom des Blutes geben. Dies wiederum sorgt für eine intrazerebrale Druckerhöhung [6]. Darüber hinaus werden Lagerungsschmerzen, verlängerte prähospitale Zeiten, erschwerte Intubationsbedingungen und Druckulzera beschrieben [5].

Merke

Bei der Anlage einer HWS-Orthese muss bedacht werden, dass die Bewegung nicht komplett eingeschränkt wird: Es wird ca. 90% der Flexion eingeschränkt. Bezüglich der Extension, Rotation und des seitlichen Kippens werden ca. 50% eingeschränkt. Eine weitere Fixation der Halswirbelsäule ist notwendig [7].


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Anlage der HWS-Orthese

Die Anlage der HWS-Orthese variiert je nach Hersteller in einigen Arbeitsschritten. Für den Artikel wird beispielhaft die Anlage der HWS-Orthese „Stifneck“ der Firma Laerdal beschrieben.

Der Kopf wird mittels MILS in einer neutralen Position fixiert ([Abb. 1]). Im Anschluss wird durch Messen des Abstands zwischen Kinnspitze und Schulter die benötigte Kragengröße ermittelt ([Abb. 2]). Danach wird die ausgemessene Kragengröße am Produkt eingestellt ([Abb. 3]). Hierfür wird die zuvor ermittelte Entfernung ab der Kunststoffkante bis zum entsprechenden Einstellloch gemessen. Entsprechend der Größeneinstellung wird der Kragen vorgeformt. Anschließend wird der Kragen um den Hals herum angebracht und die Kinnstütze weit unter das Kinn geschoben ([Abb. 4]).

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Abb. 1 Manuelle Inline-Stabilisierung (Quelle: DRK Erfurt).
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Abb. 2 Ausmessen der Kragengröße, Kinn auf Höhe des Mittelfingers des Helfers (Quelle: DRK Erfurt).
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Abb. 3 Anpassen der HWS-Orthese (Quelle: DRK Erfurt).
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Abb. 4 Anlegen der HWS-Orthese (Quelle: DRK Erfurt).
Merke

Der Kopf ist währenddessen permanent in Neutralposition zu halten.

Sollte nach Anlage des Stifneck festgestellt werden, dass die Größe nicht passend ist, muss er abgenommen und neu angepasst werden. Wenn der Stifneck die passende Größe hat, ist die Rückseite des Kragens festzuziehen. Dabei muss die Vorderseite festgehalten und anschließend befestigt werden ([Abb. 5]). Nach der Befestigung muss weiterhin der Kopf durch einen Helfer stabilisiert werden ([Abb. 6]). Die Firma Laerdal verweist in den Anwendungshinweisen darauf, dass eine Ganzkörperimmobilisation stattfinden soll, um weitere Bewegungen der Wirbelsäule zu verhindern [8].

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Abb. 5 Befestigen der HWS-Orthese (Quelle: DRK Erfurt).
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Abb. 6 Weiterhin Manuelle Inline-Stabilisierung (Quelle: DRK Erfurt).

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Leitlinien

Deutsche Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung

Mit dem Empfehlungsgrad A der deutschen Leitlinie [9] wird eine „gezielte körperliche Untersuchung, inklusive der Wirbelsäule und der mit ihr verbundenen Funktion“ empfohlen.

Unfallmechanismus

Der Unfallmechanismus liefert bereits mögliche Hinweise auf eine Verletzung der Wirbelsäule. So weisen Stürze aus großer Höhe und Hochgeschwindigkeitsunfälle eine höhere Gefahr für Wirbelsäulenverletzungen auf.

Definition

Hochgeschwindigkeitsunfall

Bei einem Verkehrsunfall spricht man bereits ab einer Kollisionsgeschwindigkeit von 30 km/h von einem Hochgeschwindigkeitsunfall [10].

3 Faktoren beeinflussen die Verletzungsschwere bei Stürzen:

  • Je höher die Fallhöhe ist, desto schneller schlägt der Körper auf dem Boden auf. Bei einer Fallhöhe von 3 m schlägt der Körper mit fast 30 km/h auf den Boden auf.

  • Beschaffenheit des Untergrundes.

  • Körperregion, mit dem der Betroffene aufschlägt.


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Untersuchung

Nach der Sicherung der Vitalfunktionen soll bei einem wachen und ansprechbaren Patienten eine orientierende neurologische Untersuchung mit Prüfung von Motorik und Sensorik bereits an der Einsatzstelle erfolgen. Neurologische Defizite können ein Hinweis auf eine Verletzung der Wirbelsäule sein. Sofern keine neurologischen Defizite bestehen, soll die Wirbelsäule folgend mittels Inspektion und Palpation untersucht werden. Empfehlungen hinsichtlich Umfang und Bedeutung dieser Untersuchung an der Einsatzstelle werden in der Leitlinie nicht gegeben, hier fehlen die nötigen Untersuchungen und Datenerhebungen.

Grundsätzlich ist die Untersuchung zum Erkennen von Wirbelsäulenschädigungen bereits an der Einsatzstelle unabdingbar.

Merke

Ist der Patient bewusstlos, muss bis zum Beweis des Gegenteils von einer Wirbelsäulenverletzung ausgegangen werden (Empfehlungsgrad A).

Hinweise auf potenzielle Wirbelsäulenverletzungen können weitere Verletzungen sein. So zeigt sich ein gehäuftes Auftreten von Wirbelsäulenverletzungen bei relevanten supraklavikulären Verletzungen und schweren Verletzungen an anderen Körperregionen. Als diagnostische Unterstützung werden die Nexus-Kriterien und die Canadian C-Spine Rules aufgeführt und für sinnvoll erachtet [9].


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Immobilisation

Bezüglich der Immobilisation der Wirbelsäule äußert sich die Leitlinie wie folgt: Bei einer bestehenden Lebensgefahr kann auf eine Immobilisation der Wirbelsäule verzichtet werden. Außerhalb dieser akuten Lebensgefahr soll die Manipulation der Wirbelsäule minimiert werden. Die Halswirbelsäule soll manuell oder durch eine HWS-Orthese immobilisiert werden (Empfehlungsgrad GGP). Allerdings existieren für den Nutzen der HWS-Immobilisation keine wissenschaftlichen Beweise.

Die Leitlinie verweist darauf, dass bei einer alleinigen Immobilisation der Halswirbelsäule eine Restbeweglichkeit der Wirbelsäule bestehen bleibt. Aus diesem Grund muss die Halswirbelsäule weiter manuell stabilisiert werden.

Merke

Im Verlauf des Rettungseinsatzes soll die Immobilisation zusätzlich mit einer Vakuummatratze erfolgen. Dies ist die derzeit effektivste Methode zur Immobilisation.

Kommt es während der HWS-Immobilisation zu Schmerzen oder zu einer Verschlechterung des neurologischen Defizits, ist die HWS-Immobilisation nicht aufzuheben. Bei Vorliegen eines Schädel-Hirn-Traumas soll kritisch abgewogen werden, ob eine HWS-Orthese angelegt wird. Als Alternative wird die alleinige HWS-Immobilisation mittels Vakuummatratze empfohlen [9].


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Internationale Traumaleitlinien

Im Folgenden werden 3 internationale Leitlinien – die amerikanische, dänische und norwegische – mit ihren Aussagen dargestellt.

Amerikanische Leitlinie

Die American Association of Neurological Surgeons (AANS) empfiehlt die Verwendung einer starren HWS-Orthese. Diese Empfehlung beruht eher auf anatomischen und mechanischen Überlegungen [11].


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Dänische Leitlinie

In der dänischen Leitlinie wird eine schwache Empfehlung gegen starre HWS-Orthesen ausgesprochen. Sie wird damit begründet, dass es keine wissenschaftlichen Studien mit dem Beweis eines positiven neurologischen Outcomes gibt. Lediglich wird bestätigt, dass die starre HWS-Orthese eine gewisse Bewegungseinschränkung erzielt. Diese Studien wurden allerdings zumeist an Leichen oder gesunden Versuchspersonen durchgeführt. In der Leitlinie werden vielmehr Studien aufgezählt, die die negativen Folgen einer HWS-Orthese belegen. So verlängert sich die Aufenthaltszeit in der Notaufnahme, die Lungenfunktion wird vermindert, es können sich Druckstellen entwickeln, das Atemwegsmanagement wird erschwert, die Verletzungen der HWS können sich verschlechtern und Patienten mit Morbus Bechterew erleiden potenziell eine Verschlechterung ihrer neurologischen Symptome. Es kann zu Unruhe und sogar zu vermehrter Bewegung aufgrund von Schmerzen kommen. Darüber hinaus wird die Erhöhung des Hirndruckes aufgelistet.

Die dänische Leitlinie empfiehlt aufgrund der fehlenden Evidenz pro HWS-Orthese, dass nur eine „manuelle Inline-Stabilisierung“ stattfinden soll. Diese soll durch Headblock oder die ausgepolsterte Vakuummatratze unterstützt werden [11].


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Norwegische Leitlinie

Die norwegische Leitlinie empfiehlt einen fundierten und selektiven Einsatz von HWS-Orthesen. Es wird, wie in der dänischen Leitlinie, darauf hingewiesen, dass ein positiver Effekt der HWS-Orthesen nicht wissenschaftlich belegt ist. Des Weiteren wird auf die Studien, die über die negativen Folgen einer HWS-Orthese berichten, eingegangen. Beide Leitlinien geben hier dieselben negativen Folgen an. Ergänzend wird in der norwegischen Leitlinie auf eine Studie hingewiesen, welche belegt hat, dass die Wirbelkörper C1 und C2 bei einer HWS-Orthese abnormal weit voneinander getrennt werden.

Die Empfehlung der norwegischen Leitlinie ist der zielgerichtete Einsatz von HWS-Orthesen. So kann bei einer Mehrzahl der Patienten bedenkenlos die HWS-Orthese angelegt werden. Bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma, Morbus Bechterew oder Unruhe soll die Orthese zurückhaltend, ggf. auch nur zeitweise verwendet werden. Auch möglich ist der zeitlich begrenzte Einsatz der HWS-Orthese für beispielsweise bestimmten Rettungsmaßnahmen. So soll die HWS-Orthese bei der Umlagerung oder der Rettung aus einem Fahrzeug angelegt werden und nach vollendeter Maßnahme wieder abgenommen werden. Der anschließende Transport soll dann nur mit MILS und oder Head-Blocks oder der Vakuummatratze erfolgen [12].

Darüber hinaus weist die Leitlinie darauf hin, dass ein wacher Patient, der sich bewegen kann, sich ohne eine HWS-Orthese eigenständig aus seinem Auto befreien und sich anschließend auf die Trage oder Vakuummatratze legen soll. Die Betroffenen sollten nicht bewusstseinseingeschränkt sein, nicht unter dem Einfluss von Medikamenten stehen und keine ablenkenden Verletzungen haben. Sollten Bedenken hinsichtlich der Sicherheit für den Patienten bestehen, ist der passive Rettungsansatz mittels HWS-Orthese zu wählen [12].

Fallbeispiel

Schauen wir auf unser Fallbeispiel und auf eine mögliche Entscheidung der Einsatzkräfte.

Der Einsatz einer HWS-Orthese ist möglich, und nach deutscher Leitlinie ist er indiziert. Es sind keine absoluten oder relativen Kontraindikationen vorhanden. Die Nexus-Kriterien und die C-Spine Rules empfehlen eine Ganzkörperimmobilisation. Die Bewertung mittels der Immo-Ampel empfiehlt eine Bewegungseinschränkung: Die HWS-Orthese soll die unwillkürlichen Bewegungen bei erhaltener Rumpfkontrolle einschränken. Von den Autoren wird darauf hingewiesen, dass die MILS in Verbindung mit Head-Blocks oder die Vakuummatratze möglich ist [5].

Kernaussagen
  • Den Einsatz einer HWS-Orthese kritisch hinterfragen, wissenschaftlich ist kein Nutzen erwiesen.

  • Anwendung eines der standardisierten Untersuchungskriterien (Nexus-Kriterien, Canadian C-Spine Rule, Immo-Ampel).

  • Beginn der Immobilisierung mittels „Manueller Inline-Stabilisierung“.

  • Ein zeitweiser Einsatz der HWS-Orthese für bestimmte Maßnahmen und Situationen ist möglich.

  • Bei Entscheidung pro HWS-Orthese: Anlage nach Vorschrift, um Folgeschäden zu vermeiden.

  • Die HWS-Orthese schränkt die Halsbewegung nur teilweise ein.

  • Überprüfen, ob nach einer technischen Rettung weiterhin die Immobilisation mit der HWS-Orthese notwendig ist.

  • Nutzung weiterer Immobilisationsmöglichkeiten wie Head-Blocks oder die Vakuummatratze.

  • Ist der Patient bewusstseinsklar und wach, ohne Einfluss von Medikamenten und hat keine ablenkenden Verletzungen, kann eine Eigenrettung aus einem verunfallten Fahrzeug stattfinden.

  • Der Mitarbeiter im Rettungsdienst soll die HWS-Orthese auf Grund der mangelnden Datenlage im Zweifel anlegen.


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Tim Sauerbier


Seit 2013 im Rettungsdienst des DRK Kreisverband Erfurt e.V. tätig, Notfallsanitäter seit 2018; 2023 Abschluss des Masterstudiums zum Medizinpädagogen; Pädagogischer Mitarbeiter im DRK Bildungscampus Erfurt gGmbH.

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Karoline Brand


Rettungsassistentin seit 2015, Ärztin in Weiterbildung für Anästhesie, Intensivmedizin und Notfallmedizin seit 2023.

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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Knight T, Han K, Hillier T. Anwendung von HWS-Orthesen im Rahmen der Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule. International Trauma Life Support Germany e.V.. Current%20thinking_HWS_DCR.pdf 2019
  • 2 Meinel H. Wirbelsäulenverletzungen. In: Kuhnke R, Koch S. , Hrsg. retten – Notfallsanitäter. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 2023: 846-856
  • 3 Hoffmann J, Wolfson A, Todd K. et al. Selective cervical spine radiography in blunt trauma: methodology of the National Emergency X-Radiographie Utilization Study (NEXUS). Anals of emergency medicine 1998; 32: 461-469
  • 4 Dönitz S. Der Patient. In: Dönitz S. , Hrsg. Präklinisches Traumamanagement – Prehospital Trauma Life Support (PHTLS). München: Urban & Fischer Verlag in Elsevier; 2016: 129-156
  • 5 Häske D, Blumenstock G, Hossfeld B. et al. The Immo traffic light system as a decision-making tool for prehospital spinal immobilization – a systematic review. Deutsches Ärzteblatt International 2022; 119: 753-758
  • 6 Hood N, Considine J. Spinal immobilisation in pre hospital and emergency care: a systematic review of the literature. Australas Emerg Nurs J 2015; 118-137
  • 7 Häske D. Spinales Trauma. In: Dönitz S. , Hrsg. Präklinisches Traumamanagement – Prehospital Trauma Life Support (PHTLS). München: Urban & Fischer Verlag in Elsevier; 2016: 281-326
  • 8 Stifneck – User Guide. (2022). Laerdal. https://cdn.laerdal.com/downloads/f6214/dfu_stifneck
  • 9 Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie e.V. S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung (AWMF Registernummer 187–023), Version 4.0 (31.12.2022). Accessed October 26, 2024 at: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/187–023.html
  • 10 Fröhlich S. Traumatologische Notfälle. In: Kuhnke R, Koch S. , Hrsg. retten – Notfallsanitäter. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 2023: 806-818
  • 11 Maschmann C, Jeppesen E, Afzali Rubin M. et al. New clinical guidelines on the spinal stabilisation of adult trauma patients – consensus and evidence based. Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine 2019; 27: 77
  • 12 Kornhall D, Jorgensen JJ, Brommeland T. et al. The Norwegian guidelines for the prehospital management of adult trauma patients with potential spinal injury. Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine 2017; 25: 2

Korrespondenzadresse

Tim Sauerbier
DRK Bildungscampus Erfurt gGmbH
Mühlhäuser Str. 76
99092 Erfurt

Publication History

Article published online:
11 February 2025

© 2025. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Knight T, Han K, Hillier T. Anwendung von HWS-Orthesen im Rahmen der Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule. International Trauma Life Support Germany e.V.. Current%20thinking_HWS_DCR.pdf 2019
  • 2 Meinel H. Wirbelsäulenverletzungen. In: Kuhnke R, Koch S. , Hrsg. retten – Notfallsanitäter. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 2023: 846-856
  • 3 Hoffmann J, Wolfson A, Todd K. et al. Selective cervical spine radiography in blunt trauma: methodology of the National Emergency X-Radiographie Utilization Study (NEXUS). Anals of emergency medicine 1998; 32: 461-469
  • 4 Dönitz S. Der Patient. In: Dönitz S. , Hrsg. Präklinisches Traumamanagement – Prehospital Trauma Life Support (PHTLS). München: Urban & Fischer Verlag in Elsevier; 2016: 129-156
  • 5 Häske D, Blumenstock G, Hossfeld B. et al. The Immo traffic light system as a decision-making tool for prehospital spinal immobilization – a systematic review. Deutsches Ärzteblatt International 2022; 119: 753-758
  • 6 Hood N, Considine J. Spinal immobilisation in pre hospital and emergency care: a systematic review of the literature. Australas Emerg Nurs J 2015; 118-137
  • 7 Häske D. Spinales Trauma. In: Dönitz S. , Hrsg. Präklinisches Traumamanagement – Prehospital Trauma Life Support (PHTLS). München: Urban & Fischer Verlag in Elsevier; 2016: 281-326
  • 8 Stifneck – User Guide. (2022). Laerdal. https://cdn.laerdal.com/downloads/f6214/dfu_stifneck
  • 9 Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie e.V. S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung (AWMF Registernummer 187–023), Version 4.0 (31.12.2022). Accessed October 26, 2024 at: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/187–023.html
  • 10 Fröhlich S. Traumatologische Notfälle. In: Kuhnke R, Koch S. , Hrsg. retten – Notfallsanitäter. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 2023: 806-818
  • 11 Maschmann C, Jeppesen E, Afzali Rubin M. et al. New clinical guidelines on the spinal stabilisation of adult trauma patients – consensus and evidence based. Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine 2019; 27: 77
  • 12 Kornhall D, Jorgensen JJ, Brommeland T. et al. The Norwegian guidelines for the prehospital management of adult trauma patients with potential spinal injury. Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine 2017; 25: 2

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Abb. 1 Manuelle Inline-Stabilisierung (Quelle: DRK Erfurt).
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Abb. 2 Ausmessen der Kragengröße, Kinn auf Höhe des Mittelfingers des Helfers (Quelle: DRK Erfurt).
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Abb. 3 Anpassen der HWS-Orthese (Quelle: DRK Erfurt).
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Abb. 4 Anlegen der HWS-Orthese (Quelle: DRK Erfurt).
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Abb. 5 Befestigen der HWS-Orthese (Quelle: DRK Erfurt).
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Abb. 6 Weiterhin Manuelle Inline-Stabilisierung (Quelle: DRK Erfurt).